24.02.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

»Das Dekameron« als
Steinbruch für die Nachwelt

Prof. Seelbach empfiehlt Boccaccio - Literaturtipp 15

Bielefeld (sas). Erstmals haben Wissenschaftler der Universität in diesem Semester Literaturtipps für Studienanfänger gegeben: Romane, Sachbücher oder Krimis legen sie ihnen ans Herz. Wir veröffentlichen einige dieser Empfehlungen - wie die von Prof. Dr. Ulrich Seelbach, der ältere Literatur lehrt.

»Das Muster für novellistisches Erzählen überhaupt« ist für Seelbach »Das Dekameron« von Giovanni Boccaccio. »Es kann dem Leser klarmachen, was erzählen überhaupt bedeutet.« Lesen, meint er, solle man es in Gänze, einschließlich der Rahmenhandlung. Genießen aber könne man es auch in kleinen Portionen - weswegen es auch für Nicht-Literaturwissenschaftler ein Vergnügen sei.
»Das Dekameron« von Giovanni Boccaccio (1313 bis 1375) ist eine Novellensammlung, die hundert Geschichten, Fabeln und Parabeln enthält - Geschichten, die durchaus unbeschwert, erotisch und sinnenfroh sind. Erzählt werden sie - und das ist die Rahmenhandlung - von sieben Florentiner Damen und drei Herren, die vor der Pest aus der Stadt in die toskanische Landschaft geflüchtet sind.
»Diese Rahmenhandlung steht im Kontrast zu den Novellen. Und sie ist beeindruckend. Denn Boccaccio schildert minutiös die Beulenpest - fast wie ein Seuchenexperte«, erklärt Seelbach. Die Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf die Pest, die Florenz 1348 heimsucht: Die einen fragen, ob sie der Wille Gottes sei, andere überlegen, was das Schicksal mit ihnen vorhabe; die einen isolieren sich, die anderen lassen es sich noch einmal richtig gut gehen. »Boccaccio hat das Grauen bewusst vor die schönen, erotischen, romantischen und auch mal traurigen Schilderungen gesetzt.« Fortuna und die Liebe, das sind für ihn darin die Mächte, die das Leben bestimmen und die der Mensch nicht beeinflussen kann.
Das »Decamerone« hat es sogar auf den Index geschafft - 300 Jahre nach seinem Erscheinen. Der Grund waren aber nicht deftige erotische Szenen, sondern die eulenspiegelnde, augenzwinkernde Kirchenkritik, die der Dichter übte. Ansonsten nämlich war sein Werk so beliebt, dass es immer wieder aufgegriffen wurde: »Die ganze Nachwelt hat Boccaccio geplündert, das Dekameron als Steinbruch für wunderbare Geschichten genutzt«, sagt Seelbach. Shakepeare hat sich ebenso bedient wie Lessing, der die dritte Erzählung, die Ring- oder Toleranzparabel für »Nathan der Weise« aufgriff. »Und sie ist durchaus aktuell: Denn sie mahnt, dass Toleranz nur üben kann, wer seine eigene Religion achtet. Ohne eigene religiöse Überzeugungen geht es nicht.«
Denen, die Boccaccio kennen lernen möchten, empfiehlt der Literaturwissenschaftler die zweibändige Ausgabe des Insel-Taschenbuchverlages: Die Übertragung aus dem Italienischen hat Albert Wesselski besorgt - »und sie versetzt durch den leicht altertümlichen Stil zurück in die Zeit der Renaissance.«
Als Privatlektüre steht bei Ulrich Seelbach als nächstes der fünfte Harry-Potter-Band an: Er wird ihn gemeinsam mit seinem elfjährigen Sohn lesen.

Artikel vom 24.02.2006