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Ich konnte mir einfach nicht einreden, dass nicht er das war, der da todbringend durch Flure und Gänge strich und sich vergewisserte, ob auch alles schlief, bevor er sich an sein verbrecherisches Werk machte.
Ich ärgerte mich über mich selbst. Trotzdem schlüpfte ich in meine Pantoffeln und ging auf den Flur zum Treppenabsatz. Alles war ruhig - bis auf das ferne Knarzen und Rumpeln des schlafenden Hauses und eine irgendwo vor sich hintickende Uhr. Das Bad war leer, allerdings stieg mir ein ungewohnter Gestank in die Nase. Ich zog in Mutters Schlafzimmer die Vorhänge zu und ging dann zu Vaters Arbeitszimmer. An der Tür hielt ich inne: Den Knauf schon halb umgedreht, überfielen mich die Erinnerungen, als hätten sie im Innern des Metallgriffs nur auf mich gewartet. Erinnerungen aus der Zeit, bevor mein Vater angefangen hatte, die Tür abzuschließen, als ich noch mit einem Glas Milch zu ihm kam oder einer Schnecke oder meinen Hausaufgaben (In Norwegen gibt es viele Fjorde, die Menschen dort haben nicht viel zu tun). Er saß dann immer versunken in seinem riesigen Sessel und grübelte über etwas nach. Wie verzaubert der Raum immer auf mich gewirkt hatte, mit seinen Schwindel erregenden Wänden aus geheimnisvollen Büchern und Journalen, dem düsteren Teppich, den Mutter immer wegwerfen wollte, aber nicht durfte, dem servilen, auf seinem Sockel hoffnungsvoll wartenden Gipskopf. Ein Raum wie eine Alchimistenhöhle, die Teil des Hauses war und auch wieder nicht, wo Vater mit uns zusammen lebte und auch wieder nichtÉ
»Was soll das hier bedeuten, Papa, Knochen?«
»Backenknochen, Charles. Du musst wissen, dass manche Menschen eigentlich gar keine haben, und diese Farben hierÉ«
»Und das, was ist das?«
»Also, das ist eine chemische Formel, so nennt man das. Und das hier ist ein Stearatradikal. Halt, Charles, nicht anfassenÉ«
»Ooh, Õtschuldigung.«
»Macht nichts. Schau mal aus dem Fenster, siehst du Mutter? Vielleicht kannst du ihr ein bisschen im Garten helfen?« Und damit schob er mich sanft, aber bestimmt zur Tür hinausÉ

S
eit seinem Tod war nichts in dem Raum verändert worden. Alles war so, wie er es hatte liegen lassen; als ob er nur mal eben aus dem Zimmer gegangen wäre und jeden Augenblick zurückkommen könnte: die Glasfläschchen mit Farbstoffen und Essenzen, die Farbskalen und Querschnittzeichnungen, der Schreibtisch, der überquoll von Magazinausschnitten mit Fotos ungestümer Models, die Frisuren und Kleider trugen, die schon aus der Mode waren. Sie glichen Geistern, die man allein für diesen Augenblick belebt hatte, aus der Dunkelheit auflodernden Flammen, die dann wieder in ihr Reich, wo es immer 1996 war, zurückkehrten. Die einzige Veränderung war Vaters Porträt, das Mutter gegenüber dem Fenster aufgehängt hatte. So konnte er sich auch weiter an dem Anwesen und dem Park erfreuen, an seinem Empire, das er aus dem Nichts aufgebaut hatte. Nun ja, fast aus dem Nichts: Unsere Familie führt ihre Ursprünge auf die ersten normannischen Eroberer zurück, obwohl einige bedauerliche Tändeleien mit dem ansässigen Kleinbauernstand die Blutlinie über die Jahrhunderte etwas verwässert hat. Diesem Umstand ist möglicherweise die gelegentliche und auch bei meiner Schwester offenbare Laxheit im Urteil geschuldet. Ich stand im Mondlicht, wobei ich mich mit den Armen am Schreibtisch hinter mir abstützte, und studierte die Hakennase, die dünn lächelnden Lippen, die frischen roten Wangen. Obwohl das Bild nach seinem Tod gemalt worden war, nach Fotografien, traf es das Wesen meines Vaters sehr gut. Er war ein Mensch gewesen, der dem Leben auf eine ihn beflügelnde, wenn auch unerklärbare Weise zugetan war.
Ich hatte schon fast vergessen, weshalb ich überhaupt hier war, als mir zufällig etwas Ungewohntes auffiel: zwei rote Vertiefungen in einem samtenen Quadrat. In Vaters Münzsammlung fehlten mysteriöserweise zwei Stücke. Frank! So spielte er also sein Spiel - langsam angehen lassen, dann fällt keinem was auf, bis das ganze Haus ausgeräumt ist! Ich stellte mir die Szene vor: ein schäbiger Vorortpub, unter der Decke der plärrende Satellitenfernseher, Plastiktische im Marmorlook, er und sein Hehler, flache Filzhüte auf den Köpfen, wie sie sich lachend mit klirrenden Gläsern zuprosteten und das schäumende Bier tranken. Ich hörte, wie unten ein Küchenschrank geöffnet wurde. Ha! Wütend krempelte ich meine Pyjamaärmel hoch. Auf frischer Diebestat erwischt, das Maul werde ich ihm stopfen, Golem hin oder her!

L
eise tappte ich die Treppe hinunter. Aus dem Salon holte ich den Schürhaken, dann sah ich auf den Bodendielen der Halle einen schwach glänzenden Lichtschein. Vor der ausladenden Treppe wirbelte ich herum und blickte von einer verschlossenen Tür zur anderen. Dann ein Geräusch! Ich stürzte mit erhobenem Schürhaken durch die Tür der Spülküche - und konnte mich gerade noch rechtzeitig fangen. Der Hieb streifte Mrs P zwar nur leicht, aber er reichte unglücklicherweise aus, um das Silbertablett aus ihren Händen schießen und auf den Boden krachen zu lassen. »Master Charles«, kreischte sie. »Sie erschrecken mich zu Tode.«
»Tut mir Leid, Mrs P, hätte nicht gedacht, dass Sie so spät noch auf sindÉ«
»Doch, ja«, sagte sie stockend. »Ich É ich mache das Frühstück.«

I
ch hob einen zartes Stück Fasan vom Boden auf. Ein paar verlockende Stückchen Röstkartoffeln klebten daran. Frühstück um drei Uhr morgens? Zudem kein gewöhnliches Frühstück. Zum Fasan gab es - beziehungsweise lag jetzt neben ihm auf dem Boden - ein himmlisch aussehendes Soufflé und eine Flasche ziemlich anständigen Armagnacs. Es schien ganz so, dass sich da jemand berechtigte Hoffnungen auf ein Frühstück erster Klasse im Bett machen konnte. Und es bestand kaum ein Zweifel daran, wer dieser Jemand war - die Arme war immer noch ganz außer sich wegen des Weiße-Bohnen-Debakels. Und tatsächlich, jetzt, da ich sie mir genauer anschaute, sah ich die Ringe, die Kummer und Müdigkeit in ihr einfaches, bäuerliches Gesicht gegraben hatten.

S
ie protestierte zwar, aber ich ließ nicht zu, dass sie das Frühstück um diese Stunde noch einmal zubereitete. Ich sagte ihr, sie solle sich keine Gedanken mehr über die weißen Bohnen machen und sofort schlafen gehen, wenn sie den Boden sauber gemacht habe. Dankbar verbeugte sie sich, und ich verließ die Küche. Ich staunte über ihren Eifer, machte mir aber doch zunehmend Sorgen um ihre geistige Standfestigkeit - ich meine, Fasan zum Frühstück, ich bitte Sie. In all der Aufregung war mir das Frank-Mysterium glatt entfallen. Und es dauerte auch noch einige Zeit, bis ich merkte, dass die Ottomane und der kunstvoll verzierte Teekessel auch verschwunden waren.

Zwei
Es könnte der Eindruck entstanden sein, als habe Bels Standpunkt etwas für sich. Ich meine den Punkt, dass ich keinen Job hatte. Für den oberflächlichen Betrachter mag es so ausgesehen haben, als führte ich - verglichen mit dem lärmenden Arbeitseifer, mit dem sich die Stadt nördlich von uns selbst zerfleischte - ein Leben in Trägheit. Es stimmte, dass ich nach einer kurzen und zu bedauernden Verirrung in höhere Ausbildungswege meine Aktivitäten im Wesentlichen auf das Haus und seine Umgebung beschränkte. Aus einem einfachen Grund: Ich war dort glücklich. Und da ich weder über nennenswerte Kenntnisse noch weiterreichende Talente verfügte, sah ich keine Veranlassung, der Welt mit meiner Anwesenheit zur Last zu fallen. Die Behauptung allerdings, ich täte nichts, war falsch. Es gab einige Projekte, die mich auf Trab hielten, wie zum Beispiel Komponieren und die Überwachung der Turmbauarbeiten im Garten. Ich sah mich als jemanden, der eine bestimmte Art zu leben wieder erweckte, eine fast verschwundene Lebensart, nämlich die kontemplative des Landedelmannes, der sich in Einklang weiß mit seiner Stellung und Geschichte. Die Menschen der Renaissance nannten das sprezzatura: Die Idee war, jede Handlung des Menschen habe von Schönheit durchdrungen zu sein, aber bei ihrer Ausführung doch mühelos zu erscheinen. Wenn nun eine Person, sagen wir, im Rechtswesen tätig war, so habe sie diese Tätigkeit auf die Stufe der Kunst zu erheben; und wenn jemand faulenzen wolle, dann habe erin Schönheit zu faulenzen. Dies, so der Renaissancemensch, sei die wahre Bedeutung eines Lebens als Aristokrat. Ich hatte das Bel mehrere Male erklärt, aber sie schien es nicht zu begreifen.

U
nser Haus hieß Amaurot. Es lag in Killiney, etwa zehn Meilen von Dublin entfernt, einer schattigen Gegend mit Meeresluft und niedrig hängenden Zweigen über schmalen, gewundenen Straßen. Die meisten Häuser waren im neunzehnten Jahrhundert von Richtern, Vizekönigen und Menschen erbaut worden, die bei Heer und Marine tätig waren. In den vergangenen Jahren jedoch war aus der Gegend eine Art Steuerparadies für ausländische Autorennfahrer und Soi-disant-Musiker geworden. Trotzdem besaß sie immer noch eine weltabgeschiedene Eleganz und atmete die Stille des Waldes. Nirgendwo sonst hätte ich leben wollen.
An so manch strahlendem Morgen stieg ich unter dem Blätterdach von Esche und Bergahorn die moosbewachsenen Stufen zum Killiney Hill hinauf.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.03.2006