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Ich bin kein von Natur aus abergläubischer Mensch, und am nächsten Tag fragte ich mich, ob an meinen wilden, rüden Gedanken vom Vorabend die weißen Bohnen schuld gewesen waren. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist mir allerdings klar, dass ich zumindest teilweise richtig lag: Franks Auftauchen markierte den Beginn unseres Niedergangs - obwohl jeder Einzelne von uns viel dazu beigetragen hat. »Der Golem kann nicht selbstständig denken«, sagte ich Bel. »Er ist ein Roboter, der von mystischen Mächten beseelt wird - von übel wollenden, muss man hinzufügen.«
»Bitte, Charles, es ist spät. Du willst mir also weismachen, dass du Frank nicht deshalb ablehnst, weil du ein Snob und Soziopath bist, sondern weil er irgendein mystisches Wesen ist, dass man geschickt hat, um mich zugrunde zu richten? Gut, sonst noch was?«
»Ich weiß, dass sich das etwas daneben anhört«, sagte ich. »Aber ich weiß nicht, wie ich dir dieses Gefühl, diese böse Vorahnung sonst erklären soll. Ich habe buchstäblich, und das ist mir noch bei keinem von deinen Freunden passiert, eine Gänsehaut bekommen.« Ich erschauerte bei der Vorstellung, wie der düstere, klobige Frank seinen Lieferwagen durch dämmerige Vorstadtstraßen steuerte und mit leeren, glühenden Augen den Ruf seines Meisters erwarteteÉ
Bel ließ die Schultern hängen. »Tja, sieht ganz so aus, als steckten wir in einer Sackgasse.«
»Ehrlich, eine Gänsehaut«, sagte ich und sah Frank vor mir, wie er nächtens mit Hilfe einer Straßensperre oder einer kleinen Mauer einen Überfall verübte.

B
el seufzte erschöpft und setzte sich ans Fußende des Bettes. »Charles«, sagte sie, »es ist ziemlich offensichtlich, dass dir während Mutters Abwesenheit deine neue Macht zu Kopf gestiegen ist. Ich weiß nicht, wie das enden soll oder ob ich irgendetwas dagegen tun kann. Aber eins weiß ich: Ich kann so nicht weitermachen. Wenn wir hier auch nur unter annähernd normalen Umständen zusammen leben wollen, müssen wir was tun. Ich habe zwar ein schlechtes Gewissen dabei, aber ich schlage dir folgendes Abkommen vor.«
»Abkommen?«
»Ja, ein Abkommen.« Sie rieb sich mit der Handkante die Augen. »Wenn du dieser Beziehung ohne weitere Vorwürfe und Anspielungen auf die jüdische Mythologie ihren Lauf lässt, dann verspreche ich hiermit Folgendes: Falls - falls - Frank und ich uns trennen sollten, bleibe ich drei Monate lang zu Hause und treffe mich mit niemandem. Na, wie hört sich das an?«
»Ziemlich zynisch«, sagte ich überrascht. »Ich meine, ich will doch bloß, dass du glücklich bist.«
»Charles, sag mir einfach, was ich tun soll, damit du mich in Ruhe lässt.«
»Hmm«, sagte ich. Zynisch hin oder her, diese ungewöhnliche Vereinbarung reizte mich doch sehr. Normalerweise endeten meine Auseinandersetzungen mit Bel damit, dass sie irgendetwas Zerbrechliches nach mir schleuderte. Die traurige Wahrheit war, dass sie diesen Kerl auch weiter treffen würde, ob mir das gefiel oder nicht. Wenigstens erhielt ich so eine Art Entschädigung - und das war etwas, das man vor ihr normalerweise nie bekam.
»Einverstanden«, sagte ich langsam. »Drei Monate undÉ«
Ihre Augen wurden schmal. »Und?«
»Und du musst mich einer deiner Freundinnen vorstellen. Laura Treston.«
»Laura Treston?«, wiederholte Bel angewidert. »Sie ist nicht meine Freundin. Mit der habe ich schon seit É Moment mal, wie kommst du eigentlich so plötzlich auf die?« Ich machte ein hüstelndes Geräusch und strich ein paar Dellen aus den Eiderdaunen. Bel stöhnte und zog an ihren Haaren. »Charles, sag bitte, dass du nicht wieder in meinen alten Jahrbüchern geschnüffelt hast.«
»Ich musste was nachschauen«, murmelte ich.
»Hör auf damit. Das ist gruselig, einfach krank. Die Fotos sind mindestens vier Jahre alt, wir waren praktisch noch Kinder damals.«
»Und wenn schon«, sagte ich grob.
»Keiner von uns sieht heute noch so aus. Ein paar sind sogar schon tot.«
»Könnten wir bitte zum Thema zurückkommen?«, sagte ich.
Bel stöhnte wieder. »Bitte, Charles, verlang das nicht von mir. Ich will sie nicht anrufen. Laura ist so was von langweilig. Nach unserer letzten Unterhaltung hab ich mich eine Woche lang an den Espressotropf gehängt.«
»Das ist meine Bedingung«, sagte ich. »Nimm an oder lass es bleiben.«
Sie kapitulierte. »Also gut«, sagte sie. »Ich ruf sie morgen an, und du versprichst, Frank und mich in Ruhe zu lassen. Versprochen?«
»Wo ist er jetzt?«, fragte ich. »Doch wohl hoffentlich im Gästezimmer?«
»Und zwar ab sofort.«
»Okay, okay, versprochen.« Ich streckte die Hand aus, sie schüttelte sie, und damit war das Abkommen besiegelt. Gähnend verließ sie das Zimmer. Ich ließ meinen Kopf, in dem ganze Gedankengalaxien herumwirbelten, aufs Kissen fallen.

S
eit meinen mädchenlosen Schultagen waren Bels Jahrbücher mein geheimes Laster gewesen. Ich hatte sie aus dem Stapel unter ihrem Bett geklaut und mit in die Schule genommen, hatte sie meinen Klassenkameraden gezeigt und wurde so der umjubelte Held des Tages. Wir versammelten uns hinter der Cricketumkleide und steckten im Glanz der Fotos die Köpfe zusammen. Wir waren fasziniert von der schieren Masse der Gesichter, Namen und Möglichkeiten, taxierten jedes Mädchen auf einer Skala von eins bis zehn, spekulierten über ihre sexuellen Vorlieben und fantasierten uns in unsere dunklen Schlafsäle, wo - schließlich kannten wir uns ja aus mit Mädchen - unweigerlich Kissenschlachten entbrennen würden É Kurz darauf wurde es still, und jeder verlor sich in seine ganz persönliche Träumerei - versunken in ein Foto, in ein Schein-Elysium, in dem unsere weiblichen Pendants weilten, in schwarzweißen Reihen strahlend oder finster dreinblickend, entrückt und fremd wie Sterne.
Und so war ich ihr das erste Mal begegnet. An einem Sommertag, als ich mich aus Langeweile in Bels Zimmer geschlichen und zum wiederholten Male erfolglos ihr Tagebuch gesucht und stattdessen das neue Jahrbuch gefunden hatte. Ich saß auf dem Bett und betrachtete die Garde zwölfjähriger Mädchen, bis mein Blick plötzlich hängen blieb, mein Atem stockte und mein Lechzen von etwas Reinerem verdrängt wurde, das so klar und vergeblich war wie ein Wunsch. Die Augen, der Mund, die hinreißende Andeutung des Halses unter der Bluse der Schuluniform; die Komposition der Locken, die - ob sie nun haselnussbraun oder blond waren, war nicht zu erkennen - so wunderbar reglos auf den Schultern ruhten. Mit einem merkwürdigen Gespür für den schicksalhaften Augenblick fuhr ich mit dem Finger über die Namensreihe unten auf der Seite. Audrey Courtenay, Bunty Chopin, Dubois Shaughnessy É und dann: Laura, Laura Treston.

O
bwohl die Mächte des Schicksals verhinderten, dass wir uns je trafen, so habe ich seitdem doch ihren Werdegang in den Jahrbüchern verfolgt; jedes einzelne erschloss mir eine neue Metamorphose. In den Kissenschlachten meiner Träume waren es mehr als alles andere die polsterweichen Brüste, die bebten und widerhallten vom zarten, dumpfen Aufprall der Federn. Noch heute, die Schulzeit seit Jahren vergangen und sie weiß Gott wo, lebte sie wie ein Hologramm in meinem Herzen fort. Die Patsy Olés dieser Welt kommen und gehen, aber das, da war ich mir sicher, das würde sich als die große Liebe meines Lebens erweisen.
Bel selbst tauchte übrigens weder auf Klassenfotos noch auf irgendwelchen anderen Fotos auf. Was ihr Aussehen anging, war sie immer heikel gewesen. Wenn die Fotos von irgendeiner Familienfeier entwickelt waren, schnappte sie sich sie unweigerlich als Erste, schaute sie zwanghaft durch, legte sie zwei Minuten später zur Seite und sagte traurig: »Was, so sehe ich aus? Warum sagt mir das denn keiner?« Ich habe nie verstanden, warum sie so ein Theater darum machte, denn schon damals konnte jeder sehen, wie schön sie werden würde. Offensichtlich entsprach das Mädchen auf den Fotos nie dem Mädchen, als das sie sich in ihrer Vorstellung sah. Sie fing an, die Fotos zu hassen, die nie verblassenden Augenblicke, deren objektive, unentrinnbare Wahrheit sie einholen und quälen würde. Also beschloss sie im Alter von zwölf Jahren, sich fortan nicht mehr fotografieren zu lassen. In der Schule fand sie immer Wege, sich zu drücken. Zu den Fototerminen wartete sie mit immer verstiegeneren Krankheiten auf. Die alten und tatterigen Nonnen, die sie als Lehrerinnen hatte, fielen immer auf die angemalten Flecken, die Masern, Gelbfieber oder irgendwelche Verletzungen vortäuschten, herein. Auf Familienfotos ist ihre Rolle die der Lücke, die der unerklärlichen paar Zentimeter Mobiliar, die am Rand eines Fotos neben Mutter, Vater oder mir zu sehen waren. Bis heute scheint sie sich in der Sekunde, in der ein Fotoapparat auftaucht, in Luft aufzulösen.

V
or Aufregung konnte ich nicht wieder einschlafen. Eine Stunde lang lag ich glücklich da und stellte mir mein neues Leben mit Laura vor. Aber mit fortschreitender Nacht schwand die Aufregung, Zweifel plagten mich, ob sich auch alles fügen würde. Plötzlich kam mir alles zu übersichtlich, zu leicht vor. Hätte ich mich dem Abkommen verweigern sollen? Hatte ich Bel verraten und verkauft? Und dann glaubte ich Geräusche zu hören. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.03.2006