02.03.2006
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»Bitte, Charles, es ist spät. Du willst mir also weismachen, dass du Frank nicht deshalb ablehnst, weil du ein Snob und Soziopath bist, sondern weil er irgendein mystisches Wesen ist, dass man geschickt hat, um mich zugrunde zu richten? Gut, sonst noch was?«
»Ich weiß, dass sich das etwas daneben anhört«, sagte ich. »Aber ich weiß nicht, wie ich dir dieses Gefühl, diese böse Vorahnung sonst erklären soll. Ich habe buchstäblich, und das ist mir noch bei keinem von deinen Freunden passiert, eine Gänsehaut bekommen.« Ich erschauerte bei der Vorstellung, wie der düstere, klobige Frank seinen Lieferwagen durch dämmerige Vorstadtstraßen steuerte und mit leeren, glühenden Augen den Ruf seines Meisters erwarteteÉ
Bel ließ die Schultern hängen. »Tja, sieht ganz so aus, als steckten wir in einer Sackgasse.«
»Ehrlich, eine Gänsehaut«, sagte ich und sah Frank vor mir, wie er nächtens mit Hilfe einer Straßensperre oder einer kleinen Mauer einen Überfall verübte.
B
»Abkommen?«
»Ja, ein Abkommen.« Sie rieb sich mit der Handkante die Augen. »Wenn du dieser Beziehung ohne weitere Vorwürfe und Anspielungen auf die jüdische Mythologie ihren Lauf lässt, dann verspreche ich hiermit Folgendes: Falls - falls - Frank und ich uns trennen sollten, bleibe ich drei Monate lang zu Hause und treffe mich mit niemandem. Na, wie hört sich das an?«
»Ziemlich zynisch«, sagte ich überrascht. »Ich meine, ich will doch bloß, dass du glücklich bist.«
»Charles, sag mir einfach, was ich tun soll, damit du mich in Ruhe lässt.«
»Hmm«, sagte ich. Zynisch hin oder her, diese ungewöhnliche Vereinbarung reizte mich doch sehr. Normalerweise endeten meine Auseinandersetzungen mit Bel damit, dass sie irgendetwas Zerbrechliches nach mir schleuderte. Die traurige Wahrheit war, dass sie diesen Kerl auch weiter treffen würde, ob mir das gefiel oder nicht. Wenigstens erhielt ich so eine Art Entschädigung - und das war etwas, das man vor ihr normalerweise nie bekam.
»Einverstanden«, sagte ich langsam. »Drei Monate undÉ«
Ihre Augen wurden schmal. »Und?«
»Und du musst mich einer deiner Freundinnen vorstellen. Laura Treston.«
»Laura Treston?«, wiederholte Bel angewidert. »Sie ist nicht meine Freundin. Mit der habe ich schon seit É Moment mal, wie kommst du eigentlich so plötzlich auf die?« Ich machte ein hüstelndes Geräusch und strich ein paar Dellen aus den Eiderdaunen. Bel stöhnte und zog an ihren Haaren. »Charles, sag bitte, dass du nicht wieder in meinen alten Jahrbüchern geschnüffelt hast.«
»Ich musste was nachschauen«, murmelte ich.
»Hör auf damit. Das ist gruselig, einfach krank. Die Fotos sind mindestens vier Jahre alt, wir waren praktisch noch Kinder damals.«
»Und wenn schon«, sagte ich grob.
»Keiner von uns sieht heute noch so aus. Ein paar sind sogar schon tot.«
»Könnten wir bitte zum Thema zurückkommen?«, sagte ich.
Bel stöhnte wieder. »Bitte, Charles, verlang das nicht von mir. Ich will sie nicht anrufen. Laura ist so was von langweilig. Nach unserer letzten Unterhaltung hab ich mich eine Woche lang an den Espressotropf gehängt.«
»Das ist meine Bedingung«, sagte ich. »Nimm an oder lass es bleiben.«
Sie kapitulierte. »Also gut«, sagte sie. »Ich ruf sie morgen an, und du versprichst, Frank und mich in Ruhe zu lassen. Versprochen?«
»Wo ist er jetzt?«, fragte ich. »Doch wohl hoffentlich im Gästezimmer?«
»Und zwar ab sofort.«
»Okay, okay, versprochen.« Ich streckte die Hand aus, sie schüttelte sie, und damit war das Abkommen besiegelt. Gähnend verließ sie das Zimmer. Ich ließ meinen Kopf, in dem ganze Gedankengalaxien herumwirbelten, aufs Kissen fallen.
S
Und so war ich ihr das erste Mal begegnet. An einem Sommertag, als ich mich aus Langeweile in Bels Zimmer geschlichen und zum wiederholten Male erfolglos ihr Tagebuch gesucht und stattdessen das neue Jahrbuch gefunden hatte. Ich saß auf dem Bett und betrachtete die Garde zwölfjähriger Mädchen, bis mein Blick plötzlich hängen blieb, mein Atem stockte und mein Lechzen von etwas Reinerem verdrängt wurde, das so klar und vergeblich war wie ein Wunsch. Die Augen, der Mund, die hinreißende Andeutung des Halses unter der Bluse der Schuluniform; die Komposition der Locken, die - ob sie nun haselnussbraun oder blond waren, war nicht zu erkennen - so wunderbar reglos auf den Schultern ruhten. Mit einem merkwürdigen Gespür für den schicksalhaften Augenblick fuhr ich mit dem Finger über die Namensreihe unten auf der Seite. Audrey Courtenay, Bunty Chopin, Dubois Shaughnessy É und dann: Laura, Laura Treston.
O
Bel selbst tauchte übrigens weder auf Klassenfotos noch auf irgendwelchen anderen Fotos auf. Was ihr Aussehen anging, war sie immer heikel gewesen. Wenn die Fotos von irgendeiner Familienfeier entwickelt waren, schnappte sie sich sie unweigerlich als Erste, schaute sie zwanghaft durch, legte sie zwei Minuten später zur Seite und sagte traurig: »Was, so sehe ich aus? Warum sagt mir das denn keiner?« Ich habe nie verstanden, warum sie so ein Theater darum machte, denn schon damals konnte jeder sehen, wie schön sie werden würde. Offensichtlich entsprach das Mädchen auf den Fotos nie dem Mädchen, als das sie sich in ihrer Vorstellung sah. Sie fing an, die Fotos zu hassen, die nie verblassenden Augenblicke, deren objektive, unentrinnbare Wahrheit sie einholen und quälen würde. Also beschloss sie im Alter von zwölf Jahren, sich fortan nicht mehr fotografieren zu lassen. In der Schule fand sie immer Wege, sich zu drücken. Zu den Fototerminen wartete sie mit immer verstiegeneren Krankheiten auf. Die alten und tatterigen Nonnen, die sie als Lehrerinnen hatte, fielen immer auf die angemalten Flecken, die Masern, Gelbfieber oder irgendwelche Verletzungen vortäuschten, herein. Auf Familienfotos ist ihre Rolle die der Lücke, die der unerklärlichen paar Zentimeter Mobiliar, die am Rand eines Fotos neben Mutter, Vater oder mir zu sehen waren. Bis heute scheint sie sich in der Sekunde, in der ein Fotoapparat auftaucht, in Luft aufzulösen.
V
Artikel vom 02.03.2006