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Ich denke nur an dein Wohlergehen. Kannst du dich nicht einfach mal hinsetzen und eine Sekunde zuhören?« Ein stechender Schmerz jagte mir durch die Eingeweide; ich zuckte zusammen und presste mir die Hand in die Seite. »Wer ist dieser Frank? Das ist doch die Frage, die wir uns stellen müssen. Was will er hier?«
»Ich weiß, wer er ist, und ich weiß, was er hier will, mich.«
»Aber weißt du, ob erÉ? Ich meine, er könnte sonst wer sein, ein Serienmörder oder ein perfekt verkleideter Supergauner, der hinter unserem Familienvermögen her istÉ«
»Warum führen wir immer wieder die gleichen Diskussionen?« Sie richtete die Frage an die Decke. »Warum muss ich mir immer wieder das Gleiche anhören, wenn ich jemanden mit nach Hause bringe? Hinterhältige Vorwürfe und Gejammere, bis ich es nicht mehr aushalte. Das ist unerträglich.«
»Nun ja«, sagte ich. »Du hast eben einen unausgegorenen GeschmackÉ« Hastig, weil sie drauf und dran war, mich zu schlagen, setzte ich hinzu: »Du bist eben ein außergewöhnlicher Mensch, Bel, du verdienst Besseres.«
»Noch vor zwei Minuten, Charles, hast du mich mehr oder weniger deutlich eine Prostituierte genannt.«
»Das habe ich nicht.«
»Doch, das hast du. Du hast gesagt, dass ich aus unserem Haus ein Bordell mache.«
»So habe ich das nicht gemeint«, sagte ich. »Ich habe nur gemeint, dass du, na ja, dass du deine Zeit nicht mit solchen Schwachköpfen verplempern sollst. Ich weiß, wie schwer es ist, den Richtigen zu finden. Aber das heißt doch nicht, dass du unermüdlich alle Falschen ausprobieren musst. Anscheinend führst du dein Liebesleben nach der Trial-and-Error-Methode. Als ob man einen Louis-quartorze-Stuhl mit einem Verandatisch aus Plastik kombiniert. Das passt einfach nicht.«
»Verstehe«, sagte Bel. »Du meinst also, ich bin ein Stuhl?«
»Ein Louis-quartorze-Stuhl«, präzisierte ich.
»Und meine Freunde sind die Verandatische.«
»Tja, zugegeben«, sagte ich. »Der da draußen sieht eher aus wie einer von diesen schwedischen Do-it-yourself-Kleiderschränken.«
»Du machst mir Sorgen«, sagte Bel. Sie stand auf und drehte sich im Lichtschein der Lampe wütend um. »Ernsthafte Sorgen. Dir scheinen echt böse Geister im Nacken zu sitzen, Charles. Du tust alles, um jede meiner Beziehungen zu zerstören. Du schaffst es, dass sich jeder, den ich mitbringe, unwohl fühlt, und du schaffst es, mich wie eine hochnäsige Society-Schickse aussehen zu lassen. Keiner war gut genug für dich. Kevin war zu schlecht angezogenÉ«
»Die Sandalen. Und die Socken.«
»Liam war zu schottischÉ«
»Aber so was von schottisch. Also, Bel, wirklich. Der Dudelsack. Und die endlosen Zitate aus Braveheart. Offensichtlich gibt es bei jedem, der stolz auf seine schottische Herkunft ist, gewisse PunkteÉ«
»David?«
»Watschelgang.«
»Roy?«
»Verdrängte Homosexualität.«
»Anthony?«
Ich kratzte mich am Kopf. »Eine Vollnull.«
»Thomas, was war der? Wie hat der dich beleidigt?«

W
arum singen Vögel? Warum ist der Himmel blau? Thomas, der angebliche Körperkünstler, der aussah, als wäre er mit dem Gesicht voraus in einen Sack voller Nägel gefallen. Ich enthielt mich eines Kommentars und gönnte mir nur ein herablassendes Glucksen.
»Ist dir eigentlich nie der Gedanke gekommen«, fuhr Bel in ironischem Tonfall fort, »dass das Problem bei dir liegen könnte? Hast du dich nie gefragt, warum bin ich nur so besessen vom Liebesleben meiner Schwester? Bin ich nicht ein klein bisschen krank, vor allem, weil ich selbst den ganzen Tag nur im Haus rumhänge und Vaters Wein trinke, vor dem Fernseher sitze und mit einzigartig blöden Mädchen rummache, in deren hübschen kleinen Köpfen sich auch nicht ein Hauch von Hirn befindet? Wie dieses eine grässliche Püppchen, der Name hatte irgendwas mit Stierkampf zu tun. Und gleichzeitig krittel ich an meiner unglücklichen Schwester rum, weil sie versucht, eine normale, echte Beziehung aufzubauen und ein richtiges Leben zu führen?« Sie war jetzt auf hundert und fing an, im Zimmer herumzustapfen. »Soll ich etwa für den Rest meines Lebens hier auf Amaurot rumhängen und nichts anderes tun, als meine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken, ganz so, als gehörten sie mir, wo mich doch in Wahrheit das alles einen Dreck angeht?« Zitternd vor Wut drehte sie sich um und schaute mich an, als erwarte sie eine Antwort.
»Reden wir immer noch über mich?«, sagte ich.
»O ja, Charles«, sagte sie und stampfte mit dem Fuß auf.
»Was schlägst du vor? Soll ich etwa, anstatt mich um meine Familie zu kümmern und sie zu beschützen, da draußen eine É eine Arbeit annehmen? Meinst du das?«
»Mit einem Wort, ja«, sagte Bel.
Ich war verwirrt. »Das ist nicht das Thema«, sagte ich störrisch.
»Möglich«, sagte Bel. »Aber es ist höchste Zeit, dass dir mal einer ein paar unangenehme Wahrheiten sagt.«
»Ich glaube, mir wird wieder übel«, sagte ich schnell.
Sie sagte sie mir trotzdem. Unbarmherzig. Sie erklärte mir, dass ich aufgrund irgendeiner verqueren Logik meine unerbetenen Einmischungen als väterlich und fürsorglich missdeute, dass diese aber in Wahrheit aufdringlich und erstickend seien. »Der einzige Grund dafür ist, dass du sonst nichts zu tun hast. Die letzten beiden Jahre hast du hier rumgesessen und getrunken, allein oder mit deinen nichtsnutzigen Freunden. Du hast im Grunde nicht den geringsten Begriff davon, was es bedeutet, erwachsen zu sein. Mir reichtÕs, Charles. Mir ist es inzwischen völlig egal, ob du noch mal zurück ans College gehst. Mir ist es egal, ob du dein Leben ruinierst. Aber ich seh nicht mehr ein, warum ich meins auch ruinieren soll. Wenn du vorhast, als Versager zu enden, bitte. Aber zieh mich da nicht mit rein.«
»Versager?«, kreischte ich. »Irgendwer muss ja die Familientradition bewahren, oder? Irgendwer muss die Fahne hochhalten.«
»Vater hat nie einen Tag freigenommen«, sagte sie geringschätzig. »Und hatte die Fahne in der Hand.«
»Ja, aber er hat nicht das ganze Leben gearbeitet, damit seine Kinder auch arbeiten müssen«, parierte ich. »Und nebenbei bemerkt, ich verstehe nicht, worüber du dich so aufregst.« Obwohl auf der Hand lag, dass Bel gnadenlos introspektiv war und wahrscheinlich unter furchtbaren Schuldgefühlen wegen diesem Frank litt. »Ich begreife nicht, warum ein paar freundlich gemeinte Ratschläge dich dazu bringen, mich gleich zum Erbsenschälen zu schicken. Oder in so eine grässliche Maschinenhalle, wo ich den ganzen Tag Deckel auf Marmeladengläser schrauben muss. Am Fließband, dauernd der Krach der Maschinen und kein Stuhl, auf den ich mich mal setzen kann, und die endlose Reihe glänzender Gläser schiebt sich unerbittlich auf mich und mein kleines Deckelaufschraubgerät zuÉ«
»Ich rede von Verantwortungsbewusstein, Charles, davon, wie ein erwachsener Mensch zu lebenÉ«
»Dein Frank da, der arbeitet vermutlich?«
Bel verstummte mitten im Satz und zupfte am Träger ihres Kleides. »Er arbeitet, ja«, sagte sie ausweichend.
»Und? Gehirnchirurg, Heißluftballonfahrer, dritte GeigeÉ«
Sie senkte den Blick. »Er hat einen Lieferwagen«, sagte sie.
»Einen Lieferwagen!«, rief ich aus und stieß triumphierend einen Finger in die Luft. »Einen Lieferwagen! Und, irgendeine Idee, was er in diesem Lieferwagen herumfährt? Opium? Elefantenstoßzähne? Gutwillige, aber fehlgeleitete junge Mädchen aus gut situierten Familien?«
»Das spielt doch keine Rolle!«, sagte sie laut. »Herrgott, ich hätte wissen müssen, dass man mit dir nicht vernünftig reden kann.«
Draußen übertönte das quengelige Quietschen der Wetterfahne das Heulen des Windes. Seufzend setzte ich mich im Bett auf und schob die Manschetten meiner Pyjamajacke zurück. Der Punkt war, dass ich sie diesmal nicht ausschließlich ärgern wollte. Ich hatte tatsächlich das gespenstische Gefühl, dass sie mit Frank eine Grenze überschritten hatte. »Bel«, sagte ich ernst. »Es tut mir Leid, dass ich so grob war. Du bist erwachsen, du hast einen Collegeabschluss, du kannst selbst entscheiden. Aber auch wenn ich keiner ehrbaren Arbeit in einer Konservenfabrik nachgehe, so habe ich doch das eine oder andere im Leben gesehen. Und dieser FrankÉ« Obwohl ich mir das Hirn zermarterte, um eine diplomatischere, appetitlichere Formulierung zu finden, fiel mir keine ein. Also holte ich tief Luft und sagte es einfach. »Ist dir eine Figur aus der jüdischen Mythologie bekannt, die man Golem nennt?«

B
el schaute mich verdutzt, aber auch misstrauisch an.
»Die Legende besagt, dass der Golem ein vollständig aus Lehm bestehendes Wesen ist É oder in bestimmten FällenÉ« Ich konnte mir diesen Zusatz nicht verkneifen, »É anscheinend auch aus SpachtelmasseÉ«
»Jetzt reichtÕs«, erklärte sie düster. »Das warÕs.«
»Komm zurück!«, rief ich verzweifelt und streckte die Arme nach ihr aus. »Um Himmels willen, komm zurück. Das ist kein Witz, Bel. Was ich dir sagen will, könnte für uns beide extrem wichtig sein.«
Sie blieb in der Tür stehen. Leicht nickend schaute sie mich mit ätzendem Blick an und sagte kühl, ich solle fortfahren.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.03.2006