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Tja, stimmt, das hab ich tatsächlich. Ich hatte mir nämlich gerade einen Film mit Mary Astor und Hüten angeschaut.«
»In einer Minute sind wir weg«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. Ich wollte noch eine witzige Bemerkung des Inhalts anbringen, dass, wenn ich das Haus nicht oft verließe, so wahrscheinlich deshalb, weil es von Leuten wie Frank überall nur so wimmelte. Als ich jedoch im Spiegel ihre Augen sah, hielt ich lieber den Mund. Bel zog eine ziemliche Show ab, aber sie war bei weitem nicht so hart, wie sie glauben machen wollte. Ich wusste, wie lange sie für die Mascara brauchte, und wenn sie jetzt anfing zu weinen, dann hätte ich die beiden die ganze Nacht am Hals. Das Vorsprechen war wohl eher schlecht gelaufen.
»Ich hab noch gar nicht gefragt, wie es heute gegangen ist«, sagte ich beiläufig. »Hast du die Rolle bekommen?«
»Nein«, murmelte sie, stellte den Drehspiegel schräg und hielt sich das Kleid vor den Körper. »Es war schrecklich. Eine Firma, die übers Internet Türen verkauft. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas derart Eseliges gehört. Die Idee war die, dass ich und dieser Typ, der mein Freund ist, in dieser Wohnung sind und einen Riesenkrach haben. Also, zwei Minuten lang brüllt er mich an, beleidigt mich und macht einen auf Riesenidiot, bis ich aus dem Zimmer stürme und die Tür hinter mir zuknalle. Und dann kommt der Slogan: Türen. Manchmal ist es besser, man geht. Das ist doch bescheuert, oder?«
»Immerhin, das war ja das erste Mal seit langem«, sagte ich. »Es kommt schon noch was Besseres.«
»Hmm.« Sie wurde rot. »Ich muss mich jetzt wirklich umziehen, Charles. Okay?«
»Ich meine, etwas, das du wirklich machen É Du willst ja wohl zu dem Kleid nicht diese Mokassins anziehen, oder?«
»Charles, bitte, hau jetzt endlich ab.«
Ich zog mich ohne weiteren Kommentar zurück. Unten in der Küche ging ich so lange nervös auf und ab, bis ich hörte, dass sie die Treppe herunterkam und zu Frank in den Salon ging.
»Du brauchst nicht aufzubleiben«, rief sie aus der Halle.
»Ha!«, rief ich zurück, aber da waren sie schon draußen.

M
an könnte vielleicht meinen, dass ich ein bisschen harsch gewesen sei, aber da Mutter im Cedars war, hielt ich es für meine Pflicht, ein Auge auf meine Schwester zu haben. Bel war einundzwanzig, drei Jahre jünger als ich, ein auffallend hübsches Mädchen mit den blassblauen Augen meines Vaters, dem wie Herbstlaub leuchtenden Haar meiner Mutter und einem Hang zum Leichtsinn, einer verächtlichen Ungeduld mit ihrem eigenen Leben, die sie von keinem der beiden hatte. Im Juni hatte sie das Trinity College beendet, mit einem ziemlich wohlwollenden Abschluss in Schauspiel. »Bel und Schauspiel«, hatte Vater gestöhnt, als er den Scheck unterschrieben hatte. »Das ist, als ob man Kohle nach Newcastle schafft.« Ein nicht ganz faires Urteil. Bel neigte zwar zum Melodramatischen und hatte auch einen scharfen Sinn für sie persönlich betreffendes Unrecht, aber der extravagante Typ war sie eigentlich nicht. Obwohl Schauspielern ihre Leidenschaft war, hatte sie es bei den Collegeproduktionen immer vorgezogen, hinter den Kulissen zu arbeiten, am Bühnenbild oder am Drehbuch, und wenn sie doch mal die Bühne betrat, dann wurde ihre Rolle jedes Mal von ihrer eigenen Schüchternheit zugedeckt.

S
eit ihren letzten Prüfungen wusste sie nichts mit sich anzufangen. Die Leere bedrückte sie, das war klar. In den letzten Monaten hatte sie eine Serie männlicher Begleiter durchlaufen, die selbst nach ihren eigenen willkürlichen Maßstäben von zunehmend minderer Qualität waren. Den Rest der Zeit schloss sie sich in ihrem Zimmer ein, hörte Dylan-Platten und blies den Rauch ihrer Joints aus dem Fenster in die Abendluft.
»Du hast Ferien, amüsier dich«, riet ich ihr. »Entspann dich ein bisschen. Schau mich an.«
»Das sind keine Ferien«, sagte sie. »Kommt mir eher vor wie das Fegefeuer. Ich sitz hier mitten in der Pampa, bin abgeschnitten von allem und jedem und warte. Worauf, weiß ich auch nicht. Ich hab kein Geld, ich bin ein Nichts, eine totale NullÉ«
»Du bist erst einen Monat vom College weg, du machst eine Übergangsphase durch, das ist alles. Ich versteh nicht, worüber du dir Sorgen machst.«
»Ich mache mir Sorgen, dass ich so werde wie du«, sagte sie und vertiefte sich mit einem verzweifelten Seufzer wieder in die Zeitung, in die endlosen Stellenanzeigen für Computerprogrammierjobs. Was ein Jammer war, der Sommer beglückte uns in diesem Jahr mit herrlich sonnigen Tagen, und der Park präsentierte sich so bezaubernd wie selten. Mutter war nicht da, also konnte ich nach Gusto umherstreifen und den Grünton der Eichenblätter, die flauschigen Blüten der Rosskastanie, die hoch aufragenden Ritterstern und Akelei bewundern. Es war eine friedvolle Zeit, und im Gegensatz zu dem, was Bel gesagt hatte, fühlte ich mich ungewöhnlich ausgeglichen. Obwohl mir natürlich von Zeit zu Zeit der Gedanke kam, dass ein Gefährte für meine Streifzüge schon angenehm wäre - ein Wolfshund vielleicht oder ein Setter, der schwanzwedelnd neben mir durchs Gras tollte und sich zu meinen Füßen einrollte, während ich mich mit einem erbaulichen Buch unter einem Baum niederließ.

N
achdem Bel und Frank gegangen waren, brauchte ich eine halbe Stunde, um die Kuhle, die Frank auf der Chaiselongue hinterlassen hatte, aus dem Polster zu kneten. Mir war nach Abendessen, aber weit und breit keine Mrs P. Als ich so am Fenster stand und auf sie wartete, sah ich den Postboten, der betrunken den Weg zur Haustür heraufschwankte. Einer der Nachteile unseres Hauses war seine Lage. Es befand sich an der Küste, von einem Dorf namens Dalkey etwa zwei verschlungene Landstraßenmeilen entfernt. Die Post sah sich nur selten imstande, ihren Dienst zu versehen; an Regentagen oder an Tagen, an denen es nach Regen aussah, oder an Tagen vor oder nach Regentagen konnte man sie vergessen. Aber die letzten Tage waren relativ gnädig gewesen, sodass der Postbote, ein weißhaariger Kauz von wenig vertrauenswürdigem Äußeren, offensichtlich beschlossen hatte, es zu wagen. Ich öffnete die Tür, als er sich gerade mit einem Packen Post zum Briefkasten hinunterbückte.
»Morgen«, sagte er. Die Schamlosigkeit dieser Lüge nahm mir den Wind aus den Segeln und die Standpauke, die ich schon seit Tagen im Kopf hatte, gleich mit. Stattdessen riss ich ihm die Briefe aus der Hand und knallte die Tür zu. Und er bummelte flötend davon, quer über den Rasen, den zu betreten eigentlich nur den Pfauen erlaubt ist.

I
ch schaute die Briefe flüchtig durch. Keiner für mich. Ein paar offiziell aussehende für meine Schwester und ein paar für Mutter, die alle den gleichen roten Stempel trugen. Irgendeine Sonderzustellung. Solange Mutter unpässlich war, oblag die Familienpost Bel. Ich legte die Briefe zur Seite und wandte meine Gedanken wieder dem Verbleib von Mrs P zu. Ich hatte sie seit dem Lunch nicht mehr gesehen und wurde allmählich ganz schwach vor Hunger. Was ich zu Frank gesagt hatte, war keine Übertreibung gewesen: Ihr gutmütiges Wesen und ihre exzellente Küche hatten diesen Haushalt durch einige schwierige Phasen gesteuert. In letzter Zeit jedoch schien die gewohnte Hingabe gelitten zu haben. Ihre Arbeitszeiten waren unberechenbar geworden, und sie wirkte abwesend - als wären ihre Gedanken woanders. Ich hatte Bel noch nichts gesagt, aber ich fing doch an, mir ein klein wenig Sorgen zu machen. Ich fragte mich, ob sie etwas bedrückte oder, noch schlimmer, ob ganz einfach das Ende ihrer nützlichen Tage gekommen und sie reif für das Gnadenbrot war.
Als Plus konnte ich verbuchen, dass mein Kater sich inzwischen verflüchtigt hatte. Ich ging also in den Keller, um eine Flasche fürs Abendessen auszusuchen. Ich war gern im Keller. Die kühle, dünne Luft war wie eine Decke, die sich angenehm feucht an den Körper schmiegte. Und im schwachen Licht glänzten karmesinrot, malven- und burgunderfarben die Flaschen, Regenbögen innerhalb von Regenbögen, eine der wenigen ungetrübten Freuden im Leben meines Vaters. Zugegeben, in jüngster Zeit hatten sich die Reihen etwas gelichtet. Es waren recht ausgelassene Monate gewesen - die alte Gang mal wieder komplett versammelt, fabelhafte, törichte Partys, ineinander übergehend wie der flatterhafte, atemlose Raum zwischen Nacht und Tag. Rückblickend würde ich sagen, dass diese Zeit all die Merkmale eines letzten Versuchs aufwies. Ich fragte mich, ob ich der Einzige gewesen war, dem das nicht aufgefallen war.

N
icht dass es von Belang war - nichts hatte irgendwelche Folgen gehabt, weder die wilden Feste noch der Schnaps, noch die Mädchen mit den Pfauenfedern im Haar. Ich war hinter Patsy Olé her gewesen. Patsy Olé war exquisit und bezaubernd. Und wie um alle Mädchen, die exquisit waren und bezaubernd und sich einen Scheiß kümmerten, scharwenzelten immer jede Menge Kerle um sie herum. Zudem war sie eins von den Mädchen, die an dem Streit und dem Hass, den sie unter ihren Freiern hervorrief, mindestens genauso viel Spaß hatte wie an den Beziehungen selbst, und als solche war sie für zwei oder mehr Liebschaften parallel jederzeit zugänglich. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.02.2006