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Wenn sie nach ihrem Debüt immer noch schauspielern wolle, so seine Zusage, dann würde er alles in seiner Macht Stehende tun, um ihr bei der Suche nach einem Job am Broadway zu helfen.
Auf sein Wort war Verlass. Anstatt ins Büro zu gehen, fuhr Howard Tierney mit seiner Tochter jeden Mittwoch um 8:15 Uhr mit dem Zug in die Stadt, um Agenten und Produzenten zu treffen. Nach einigen kleineren Nebenrollen erwischte sie schließlich eine Rolle in einem Erfolgsstück, und Darryl F. Zanuck, der Boss von Twentieth Century Fox, flog an die Ostküste, um sich Gene anzuschauen. Er engagierte sie sofort. Ihr Vater handelte mit Fox einen Vertrag aus, der ihr fünfmal so viel einbrachte wie der von Warner. Er gründete eine Firma, die Belle-Tierney-Corporation (Belle war der Spitzname von Genes Mutter), die seine Tochter vertreten, Werbung betreiben und ihre künftigen Einkünfte verwalten sollte.
1939 flog Gene mit dem ersten Transkontinentalflug überhaupt nach Hollywood. Als sie aus dem Flugzeug stieg, drückte ihr jemand eine Plakette in die Hand. Gene wurde der Fox-Publicity-Abteilung übergeben, die mit ihr das Starlet-Aufbauprogramm durchzog. Sie machten Fotos in Nachtclubs, am Pool und am Strand, arrangierten Interviews und arbeiteten an ihrem Image, dachten über einen neuen Namen nach und darüber, was für ein »Typ« sie sei - eine Penny Singleton oder eine Deanna Durbin -, denn es war wichtig, wie jemand anderer auszusehen. Dann begann die Arbeiten an The Return of Frank James mit Henry Fonda. Jeden Abend nach den Dreharbeiten setzte sie sich allein in den Vorführraum, schaute sich Filme an und versuchte sich selbst beizubringen, wie man spielte.

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ie nächsten Stunden ging ich das ungeordnete Material durch und versuchte es chronologisch zu ordnen. Das Lesen machte mich traurig. Aber vielleicht ist das Leben eines jeden Menschen traurig, wenn man weiß, was als Nächstes kommt. Ich hatte den Eindruck, als könne man in jeder winzigen Information, in jedem Biografieschnipsel, in jedem PR-Standfoto den gesamten Verlauf ihres Lebens und die Kräfte, die es zerstören sollten, erkennen. Selbst ganz am Anfang, als sie noch voller Zuversicht und Hoffnung war, waren diese Kräfte schon da, wie Fallen, die nur darauf warteten, zuzuschnappen.

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m zwölf Uhr war ich ziemlich erschöpft. Ich packte alles zurück in den Schuhkarton, gelobte, eher früher als später weiterzumachen, und begab mich auf die Suche nach Mrs P. Vielleicht war sie in Stimmung, mir ein paar Teeküchelchen aus der Röhre zu zaubern. Unterwegs kam ich wieder an Bels Tür vorbei und legte auch zufällig wieder eine kleine Pause ein, gewissermaßen, um mich zu orientieren - aber die beiden unterhielten sich über genau das gleiche Thema wie vorher. Frank hatte es wieder mit seiner Gräfin und sagte gerade, dass sie sehr reich sei. Dann machte er eine Pause, hustete ein paarmal und sagte, dass sie eher saloppe moralische Standards pflege und mit einem Mann von nichtadeliger Abstammung verheiratet sei - was aus Franks Mund ein bisschen herb klang. Er schien sich über Nacht einen Sprachfehler zugezogen zu haben. Bei jedem zweiten Wort verhaspelte er sich, und sein Tonfall war von einer enervierend bleiernen Monotonie. Bel regte sich furchtbar darüber auf, dass sie nicht schlafen konnte. Dauernd nannte sie Frank »Onkel«, was mir als Kosename doch ziemlich eklig vorkam. Sie klang komisch, als wäre ihre Stimme ein geliehenes Kleid, das ihr nicht richtig passte.
»Ja«, sagte Frank. »Du hast ganz Recht. O Gott, es ist schrecklich.«
»Könntest du ein bisschen schneller?«, sagte sie.
»Ja, du hast ganz Recht, es istÉ«
»Moment, Frank, vielleicht sollten wir doch etwas zurückgehen - und wie gehtÕs denn meinem kleinen KindÉ«
»Okay É Du bist nicht nur eine Nichte für mich, du bist ein Engel, ein É Bel, ich versteh kein Wort von dem, was dieser Penner sagt. Will er sie nageln, oder was? Ich meine, er ist ihr Onkel, ist ja wohl Õn bisschen daneben, wenn er sie flachlegen will, oder nicht?«
»Herr im Himmel!«, sagte sie verzweifelt.
»Außer wennÉ«, brummelte er vor sich hin. »Also, wenn er ein Onkel ist, der die Tante erst später geheiratet hat, schätze, dann gehtÕs schon, oder?«
»Das ist völlig egal, Frank, du sollst es bloß lesen É ach was, hat ja sowieso keinen Sinn, ich schaff das nie!«
Darum ging es also. Sie brachte ihm Lesen bei.
»Bel?«
»Ja?«
Die Arme hörte sich ziemlich ausgepumpt an, dabei war es noch nicht mal Mittag. Vielleicht wurde ihr gerade klar, dass sie sich da etwas aufgeladen hatte, das sie nicht stemmen konnte.
»Also, wenn du meine Nichte wärst, ich glaub, ich würd dich ganz gern flachlegen.«
Eine Sekunde lang herrschte empörte Stille. Ich stand vor der Tür und errötete stellvertretend für sie.
»Édann würd ich dir mal richtig zeigen, wo der Hammer hängtÉ«

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chande, o Schande! Ich wollte gerade ins Zimmer stürzen und seine Unverfrorenheit mit meinem Handrücken vergelten, da hörte ich zu meinem Entsetzen, dass Bel in lautes Gelächter ausbrach. »Ach, du!«, sagte sie, dann hörte ich das Geräusch einer quietschenden Sprungfeder. Plötzlich wurde mir komisch im Magen. Ich trat hastig den Rückzug an, bevor es richtig zur Sache ging.

»Was wissen wir schon von Mrs P?«, sagte ich am Nachmittag des nächsten Tages und legte mein Buch auf den Tisch.
Mir gegenüber saß Bel und bog mit einem merkwürdigen Metallapparat ihre Augenwimpern. »Hmm?«, sagte sie.
»Wie lange ist sie jetzt schon bei uns? Zwei Jahre? Oder drei? Und trotzdem haben wir keine Ahnung, wie sie eigentlich tickt.«
»Wenn jetzt eine von deinen paranoiden Wahnvorstellungen kommt - ohne mich«, sagte sie und klemmte die oberen Wimpern des einen Auges zwischen zwei Stahlgreifer.
»Nein, nein«, sagte ich ungeduldig. »Ich will bloß sagen, dass es komisch ist, wenn jemand so lange in einem Haus lebt und doch ein völlig Fremder bleibt - wenngleich ein hoch geschätzter und gut entlohnter Fremder. Bringen wir ihr genügend Aufmerksamkeit entgegen? Sollten wir nicht, na ja, du weißt schon, irgendwie mehr reden mit ihr und so was?«
»Wie kommst du auf einmal darauf?«, fragte Bel neugierig.
»Nur so«, sagte ich. »Jeder braucht doch Liebe.«
Sie lachte gackernd. »Wie wärÕs mit einem Bed-in?«
»Meinst du nicht auch, dass sie in letzter Zeit etwas unausgeglichen ist? Zum Beispiel die Geschichte mit den Bohnen. Dauernd diese bizarren Bemühungen um Buße. Gestern hat sie mir Unterhosen gekauft.«
»Ich glaube nicht, dass daran irgendetwas Unausgeglichenes ist, wenn sie das wieder gutmachen will. Mal abgesehen davon, Charles, dass das natürlich ganz allein dein Fehler warÉ«
»Ja, ja, aber du hättest die Dinger sehen sollen. Egal, es ist ja wohl ziemlich unpassend, seinem Arbeitgeber überhaupt Unterwäsche zu schenken. Es sei dennÉ« Ein schrecklicher Gedanke schoss mir durch den Kopf. »Großer Gott, Bel, sie hat sich doch nicht in irgendeine fixe Idee verrannt, oder? Ich meine, sie wird doch nicht versuchen, mich zu verführen?«
»Na ja, wahrscheinlich hat sie schon mitgekriegt, dass man bei dir mit einer halben Flasche Jameson und einem WonderbraÉ«
»Ich meinÕs ernst. Da sind noch andere Sachen passiert. Gestern Nacht hab ich sie überrascht, wie sie mir Frühstück machte. Und zwar zu ziemlich unchristlicher Zeit. Ich will ja nicht ihren Arbeitseifer kritisieren, natürlich nicht, aber sie hat einen ganzen Fasan gemacht. Kommt dir das nicht auch ein bisschen seltsam vor?«

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achdenklich hob sie die Augenbrauen. »Eigentlich nicht. Nicht bei dir. Denk an deine Hummer-zum-Frühstück-Phase. Oder an deine Foie-gras-Phase. Und dann dieses abscheuliche marokkanische GebräuÉ«
»Ja, schon gut É Aber in letzter Zeit bin ich sehr genügsam gewesen. Ein Croissant und den Cricket-Teil der Zeitung, das ist allesÉ«
»Richtig, aber nur, weil du in letzter Zeit jeden Morgen einen Kater hast. Ich wünschte, du würdest deinen Alkoholkonsum etwas einschränken, Charles. Weißt du, wie es im Weinkeller aussieht? Dumme Frage, natürlich weißt du das. Da unten siehtÕs aus, als würdest du ganze Busladungen voller Lebemänner versorgen und nicht nur dich selbst.«
»Besser Lebemann als tote Hose, wie ich immer sage. Aber jetzt reichtÕs langsam, sei so nett und kümmer dich wieder um deine Maquillage.«
Sie verzog das Gesicht und betupfte mit einer Puderquaste ihre Nase. Bel verwandte immer viel Sorgfalt auf ihr Äußeres. Ihre Garderobe bestand hauptsächlich aus Secondhandklamotten, aber ihr Look - Bettelstudent Parisienne, circa Õ68 - hatte Raffinesse. Ich fragte mich, wie Frank sich zum Ausgehen ausstaffierte. Wahrscheinlich war er zufrieden, wenn man die Schraubenbolzen im Hals nicht sah.
»Wir waren bei Mrs P. Ich glaube einfach, dass wir uns mehr um sie bemühen sollten. Sie wird alt, sie braucht unsere Hilfe. Höfliche Fragen nach ihrem Befinden, so was. Ganz sicher weiß sie ein paar drollige Geschichten aus ihrer Heimat - Bosnien, oder?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.03.2006