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Ich hatte in das Tor der Garage, in der sie lebten, eine Pfauenklappe einbauen lassen, damit sie rein und raus konnten, wann sie wollten. Außer anlässlich der peinlichen Arztbesuche hatten wir nicht sonderlich viel miteinander zu tun. Ich fühlte mich deswegen ein bisschen schuldig, aber eigentlich waren sie selbst dran schuld. Sie waren die nutzlosesten Kreaturen, strohdumm, schmutzig, ohne Sinn für Loyalität oder Dankbarkeit, und fingen sich, wenn man nicht dauernd ein Auge auf sie hatte, wegen jedem Kinkerlitzchen Parasiten ein.

Der Tierarzt untersuchte jeden Vogel und besprühte alle mit irgendeinem Pulver. Dann wurde er, wie üblich, unangenehm wegen ihrer Lebensbedingungen und ermahnte mich, zwecks Vorbeugung gegen zukünftige Infektionen häufiger frisches Sägemehl einzustreuen etc., etc. »Und füttern Sie sie, Mr Hythloday, das sind Tiere, die müssen jeden Tag fressen, und nicht nur, wenn Sie dran denkenÉ«
»Ja, ja«, sagte ich. Es war ein bisschen früh für Ermahnungen, und, ehrlich gesagt, ich glaube, dass wir insgeheim alle hofften, sie würden bald wegsterben, damit wir sie endlich los wären. Einen anderen Grund dafür, dass man mir die Obhut über sie aufgetragen hat, kann ich mir auch nicht vorstellen. Außer dem praktischen, dass die Garage der einzige Bereich des Hauses war, für den Mrs P keinen Schlüssel hatte. Sogar Mutter hielt die Pfauen für etwas übertrieben. Bel begegneten ihnen mit besonderem Abscheu, seit im dritten Jahr auf dem Trinity College ihre Freunde aus der Schauspielklasse zum Marxismus konvertiert waren und ihr wegen der Vögel die Hölle heiß machten.

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er Grund, warum Mrs P keinen Schlüssel hatte, war der, dass die Pfauen die Garage mit dem von Vater wahrscheinlich meistgeliebten objet teilen mussten: einem Mercedes, Baujahr 1930, einem flaschengrünen Original-Grand-Prix-Rennwagen. Der ganz in der Nähe wohnende deutsche Botschafter hatte ihm den Wagen geschenkt, weil er für seine an furchtbaren Ekzemen leidende Tochter einen speziellen Hypo-Allergen-Balsam entwickelt hatte. Er hatte den Wagen nie gefahren; tatsächlich war sich keiner von uns sicher, ob man überhaupt mit ihm fahren konnte. Aber er hatte ihn zwanghaft jeden Sonntagnachmittag gewaschen. Stundenlang hatte er ihn mit Polierleder und Bienenwachs kraftvoll gewienert. Wenn er fertig war, stand er mit verschränkten Armen neben dem Garagentor und beobachtete, wie sich die letzten Strahlen der hinter ihm zwischen den Bäumen untergehenden Sonne über das Metall ergossen. Diese Augenblicke des Übergangs, in denen seine Gedanken um den still dastehenden Mercedes kreisten, gehörten zu den wenigen, bei denen man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen konnte, dass mein Vater vollkommen glücklich war.

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ls der Tierarzt gegangen war, schlenderte ich in die Küche, wo Mrs P gerade Rührei auf zwei Teller mit Sodabrot und Räucherlachs verteilte.
»So, so, er ist also immer noch da«, sagte ich.
»Ja, Master Charles. Und kommen Sie nicht zu nah an Ihre Schwester, sie hat gerade viel zu tun.«
»So, so! Was hat sie denn so viel zu tun?«
»Ich weiß nicht. Sie steht früh auf, sagt, wo sind bitte Rühreier, ich muss noch vorbereitenÉ«
»Vorbereiten? Was vorbereiten?«
»Ich weiß nicht, Master Charles, aber sie hat viel - wie sagt man - Stress?«
»Sekunde, Mrs P - diese Unterhose, wem gehört denn die?«
»Unterhose, Master Charles? Wo ist Unterhose?«
»Na da, die da aus dem Wäschekorb raushängt.« Wie konnte sie die nicht sehen? Das war die größte Unterhose, die ich je gesehen hatte.
»Oh, die.«
»Die gehört ja wohl nicht Frank, oder?« Der Gedanke, dass sich Franks Leibwäsche mit meiner vermischte, gefiel mir gar nicht.
Mrs P rieb sich langsam das Kinn. »Nein, Master Charles, das ist É Geschenk.«
»Ein Geschenk?«
»Ja, Master Charles«, sagte sie und nickte. »Für Sie, die habe ich gekauft für Sie.«

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ie viel Buße für gestern Abend wollte sie denn noch tun? Konnte sie die Sache nicht einfach vergessen? Das hatte ich vorhin gemeint, als sie mir ein bisschen zerstreut vorkam. Außerdem: In diese Unterhose passten bequem drei oder vier Charlese. »Das ist wirklich rührend, Mrs P, aber ich glaube wirklich nicht, dass Sie mir Geschenke machen sollten. Und Unterhosen habe ich auch jede Menge.«
»Ja, Master Charles, aber ich bin in Geschäft, und da sehe ich Sonderangebot. Und ich denke, das ist gut für Master Charles, und dann sehe ich, zu großÉ«
»Ja, ja, schon gut. Macht ja nichts, Sie können sie ja wieder zurückbringen. Später.«
»Später, ja, Master Charles, ich bringe zurück.«
»Das wird wohl das Beste sein. Trotzdem, vielen Dank.« Die letzten Worten gingen ins Leere, da sie sich samt Tablett schon davongemacht hatte.

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as immer sie taten, Bel und Frank verhielten sich fast den ganzen Morgen ruhig, und ich hielt mich an die Bedingungen unserer Abmachung und forschte nicht weiter nach. Als ich einmal an ihrer Tür vorbeikam, schnappte ich jedoch ungewollt ein paar Brocken auf, in denen Frank über eine Gräfin sprach. Ich fragte mich, wozu Frank sich mit Gräfinnen herumtrieb und ob es sich dabei um eine handelte, die ich kannte, und ohne dass ich die Absicht gehabt hätte zu lauschen, blieb ich ein paar Sekunden stehen. Die Unterhaltung drehte sich dann jedoch um einen Gerichtstermin, was mir eher zu Frank zu passen schien, worauf ich meinen Weg fortsetzte.


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ach meinem frühen Tagesbeginn verspürte ich einen ungewöhnlichen Tatendrang. Ich verbrachte eine ertragreiche Stunde am Klavier und arbeitete an der Überleitung für ein Lied, das ich gerade komponierte. Es trug den Titel »Immer nur du«.

Du sagst, alles ist aus,
und ich sag, dass ich dich versteh,
du weinst, alles ist aus,
ich nehm deine Hand, dann geh É

Ich weiß, du musst frei sein,
aber ich kann nicht allein sein,
es wird verdammt hart ohne dich,
Und deshalb sing ich É

Immer nur du,
wie Kaugummi am Schuh,
wie Fliegen auf der Kuh, wie ein Tattoo,
wie im Hals ein Kloß,
du wirst mich nicht los,
oh, Darling, immer nur du.

Zugegeben, das waren nur Fingerübungen. Das Double Feature, bei dem ich gestern Abend eingeschlafen war, hatte mich jedoch wieder an ein altes Projekt von mir erinnert. Ich ging in mein Zimmer und durchwühlte das Chaos unter meinem Davenport-Sekretär, bis ich den alten Schuhkarton fand. Darin befand sich, umwickelt von einem ausgeleierten Gummiband, ein dicker Packen mit biografischen Artikeln, Rezensionen, Ausschnitten aus Hollywood-Klatschblättern, Presse- und Standfotos - alle Gene Tierney betreffend, ihr Leben und ihr Werk. Ohne zu wissen, warum, hatte ich diesen Wust über einen langen Zeitraum zusammengetragen. Gene Tierney hatte etwas, das sie von anderen unterschied, das zu mir zu sprechen schien. Mehr als alle anderen ihrer Zeitgenossen schien ihr Leben verwoben mit dem eigentlichen, nicht greifbaren Wesen von Kino. In jedem Detail lag etwas Märchenhaftes oder dessen Gegenteil. Je mehr Filme ich sah, je mehr Ausschnitte ich sammelte, desto mehr verspürte ich den unbestimmten, nagenden Wunsch, etwas für sie zu tun - etwas zu schreiben, etwas zu unternehmen oder wenigstens diese Fragmente in irgendeine sinnvolle Ordnung zu bringen.
Sie war siebzehn, als sie entdeckt wurde - und zwar, wie nach einem Hollywood-Drehbuch, hinter den Dekorationen eines Warner-Brothers-Films. Sie machte mit Mutter, Bruder und Schwester eine Studioführung, ein Zwischenstopp auf einer großen Sommerferienreise quer durch Amerika, achttausend Meilen mit dem Auto, von ihrer Heimatstadt Fairfield, Connecticut, nach Kalifornien und zurück. (Die beiden Mädchen hatten so viel Garderobe dabei, dass sie mit einem Anhänger reisen mussten.) Sie schauten sich die Dreharbeiten von The Private Lives of Elizabeth and Essex mit Errol Flynn und Bette Davis an, als der Regisseur die Arbeiten unterbrach, zu der Gruppe hinüberging und Gene sagte, sie gehöre auf die Leinwand. Das war nicht nur so dahergeredet: Er schickte sie auf der Stelle zu Probeaufnahmen, und am nächsten Tag bot ihr Warner einen Vertrag an.

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hr Vater, der aus beruflichen Gründen in New York geblieben war, nahm die Neuigkeit nicht begeistert auf. Howard Tierney war ein einflussreicher Mann aus der Versicherungsbranche, dessen Vermögen allerdings - wie das jedes anderen - in den Jahren davor gelitten hatte. Er hielt nicht viel von Hollywood, und noch weniger hielt er von Warners 150-Dollar-pro-Woche-Vertrag. In jenen Tagen erwartete man von jungen Damen aus der Gesellschaft - und die Tierneys gehörten zur besseren Gesellschaft -, dass sie ihre Schule beendeten, einen Yale-Burschen heirateten und in Connecticut lebten. Jedwede schauspielerischen Neigungen waren auf Tanzfläche und Countryclub zu beschränken. Aber Gene war sein Liebling. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.03.2006