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Und wenn wir uns schon fragten, was das Ganze sollte und wie lange wir hier noch sinnlos herumstehen müssten, während unten wertvolle Fernsehzeit verrann, drehte er sich zu uns um und fing ohne einleitende Worte an, aus dem Gedächtnis ein Gedicht vorzutragen, schaurige Verse über einsame Liebende und launische Elfen, über hinterhältige Gespenster und raunende Meere. Und während wir bleich wurden vor Unverständnis oder vor Erregung zitterten angesichts der betörenden, mehrdeutig sprühenden Magie der Zeilen, sagte er leise lachend: »Yeats, Kinder. Yeats hätte das gefallen, so ein Abend, hier oben mit uns.« Und bevor wir noch darüber Auskunft geben konnten, dass uns die Anwesenheit oder sonst was von Yeats egal war, hatte er sich schon umgedreht und war zurück Richtung Haus marschiert.

V
ater war ein Meisterkosmetiker gewesen. Was ein Meister der Renaissance auf einer leeren Leinwand erblickt haben mochte, erahnte er in der Haut des menschlichen Gesichts: die Möglichkeit übernatürlicher Schönheit. Malte ein Meister der Renaissance jedoch, um Zeugnis zu geben von der Größe Gottes, so sah mein Vater, der Agnostiker, der zeit seines Lebens mit einem Gott im Streit lag, an den er nicht glaubte, seine Arbeit als Widerstand. Als wollte er behaupten: Wo du versagt hast, da habe ich Erfolg; ich kann den Menschen über deinen erbärmlichen Schöpfungsakt hinausheben. Er hatte mit allen Größen gearbeitet- mit Lancôme, Yves St. Laurent, Givenchy, Chanel. Er hatte Salben, Balsame und Lotionen erfunden, um die Verheerungen durch die Sonne aufzuhalten, den schwarzen Glanz von Mascara vor Regen und Tränen zu schützen, das Blutrot des Kussmundes auch bei tausend blutroten Küssen zu bewahren. Lindern, verjüngen, verschönern, wiederherstellen, kurz, Kosmetika als Beweis der Liebe zum Menschen, als Mittel, die Jahre zurückzudrehen und die Geschichte des Lebens ungeschrieben zu machen. Eine Geschichte, die sich immer in Falten, Narben und trockener Haut niederschreibt, egal, was man sich alles erzählt über den Glanz der Weisheit und des Lebens reiche Fülle.

S
ein Tod lag jetzt zwei Jahre zurück. Er kam nach langer, verheerender Krankheit und war mit großen Leiden verbunden. In seinen letzten Tagen verfiel er zusehends. Der Verstand ließ ihn im Stich, und er missbrauchte seine Kunst. Er versuchte, die durch die Krankheit hervorgerufene Entweihung zu verbergen und ihr - so glaubte er - entgegenzuwirken. »Es führt einfach kein Weg dran vorbei«, hatte er uns immer wieder gern erzählt, als er noch gesund war. »Dein Aussehen bestimmt, wer du bist. Du kannst deine Seele oder dein Herz in die Waagschale werfen, aber überall auf der Welt wird man dich nach deiner großen Nase oder schlaffen Haut beurteilen. Sechs Milliarden Menschen können sich irren, aber keiner wirdÕs zugeben.« Also schmierte er sich mit zitterigen Fingern Lage um Lage Make-up ins Gesicht. Wie ein trauriger, syphilitischer Pierrot lag er im Halbdunkel, die Wangen ausgezehrt, hohl, befleckt mit Rouge. Eine Zeit lang hätte nicht viel gefehlt, und das Haus hätte sich in eine Art Sterbeklinik namens Cage Aux Follies verwandelt. Alle krakeelten herum, hysterisch und gelegentlich mit französischem Akzent. Es war eine Erlösung, als er starb und wir ihn für unsere Erinnerungen wieder so sehen konnten, wie er vor diesem tödlichen Vaudeville gewesen war. Seine letzten Worte an mich habe ich immer noch im Ohr. Mit einem zerbrechlichen, gekrümmten Finger winkte er mich aus dem Dunkel zu sich, und ich kniete mich neben sein Bett. »Mein Junge É die Welt ist grausamÉ«, hatte er geflüstert. »Vergiss nie É die FeuchtigskeitscremeÉ«
Obwohl es zu Vaters Lebzeiten in der Regel seine Stimmung gewesen war, die das Haus prägte, so war Mutter immer die Härtere der beiden gewesen, eisern auf korrektes Benehmen achtend und auf, wie sie es nannte, »Kinderstube«. Ihn umgaben eine Art spröder Weltabgewandheit und eine Aura vergeistigter Distanz. Sie hingegen kannte so ziemlich jeden, den man kennen konnte, und flatterte ununterbrochen zwischen Lunches, Vernissagen, Buchpräsentationen und Dinnerpartys hin und her, mit oder ohne Vater im Schlepptau. Vor allem in den letzten Jahren wurde sie immer unabhängiger; je mehr er sich zurückzog, desto mehr nahm sie im Haus die Zügel in die Hand.

K
urz nach seinem Tod jedoch begann auch sie zu verfallen. Nach und nach, aber unübersehbar, ein langsamer, unwiderruflicher Rückzug, bis sie schließlich das Haus überhaupt nicht mehr verließ und auch keine Telefonanrufe mehr entgegennahm. Gleichzeitig legte sie eine Heiterkeit an den Tag, die gar nicht zu ihr passte. Dauernd verwickelte sie Bel und mich in alberne, geschwätzige und endlose Gespräche. Sie plapperte uns mit Klatsch über die Nachbarn, vagen Urlaubsplänen oder irgendeiner unbedingt zu erledigenden Arbeit am Haus voll. Sie saß in ihrem Sessel im Salon und informierte uns wie ein Privatticker von Reuters über alles, was ihr gerade durch den Kopf ging. Das war die eine Seite von ihr, von deren Existenz wir keine Ahnung gehabt hatten, und die (so unsere Vermutung) an Vater immer abgeprallt war und jetzt plappernd über uns kam. Wir wussten nicht recht, wie wir darauf reagieren sollten. Und wenn wir es taten, wussten wir nicht genau, ob sie uns überhaupt zuhörte, weil sie nämlich ohne Unterbrechung trank. Martinis zum Frühstück, Whisky Sours bis in den Abend, trinken und reden, reden und trinken. Bis sich eines Abends die Lage zuspitzte.

I
m Laufe des Jahres hatte sich zwischen Mutter und Bel eine ziemlich hitzige Beziehung entwickelt, die sich an den banalsten Dingen entzünden konnte. Ich wusste nicht, was der tiefere Grund dafür war, aber ich hatte meine Vermutungen. Vor unserer Geburt waren Mutter und Vater so etwas wie Stars in Dublins Theaterszene gewesen, natürlich nicht als professionelle Schauspieler, aber jeder kannte sie. Später schien zwischen Mutter und Bel irgendeine Art von Showbiz-Rivalität entstanden zu sein. Was komisch war, denn in den ersten Jahren, als Bel noch zur Schule ging, hatte Mutter ihre schauspielerischen Ambitionen sehr gefördert. Das hatte sich dann geändert, warum auch immer. Plötzlich, praktisch über Nacht, schien sie ihr diesen Ehrgeiz zu verübeln. Plötzlich nervte sie Bel mit mehr Kommentaren und Ratschlägen, als diese vertragen konnte. »Jede große Schauspielerin hat einen inneren Kern, der den Ursprung jeder ihrer Darbietungen bildet«, sagte sie zum Beispiel. Die meisten ihrer Aussprüche hatten diesen metaphysischen Touch. »Dein Problem ist, dass du deinen inneren Kern noch finden musst.«

I
ch vermutete, dass dies die Quelle der Feindseligkeit war. Angefangen hatte es schon, bevor Vater krank wurde. In den Monaten nach seinem Tod verschlechterte sich die Lage so, dass die beiden praktisch aus nichts einen Streit anzetteln konnten. Mutter beschuldigte Bel, Dinge zu vergessen oder zu vernachlässigen, warf ihr Egoismus, Narzissmus, Treulosigkeit und Hinterlist vor. Anfangs war Bel so überrascht, dass sie es einfach hinnahm. Später, als alles, was sie tat, Kritik von oben hervorrief, begann sie zurückzuschlagen. Wenn sie sich verletzt fühlte, schrie und kreischte sie so lange jede nur erdenkliche Beleidigung heraus, bis jeder das Weite suchte. Ihre Streits wurden sehr schnell hässlich. Als ich an einem Abend vor etwa sechs Monaten nach Hause kam, stand Bel mit nahezu farblosem Gesicht in der Halle. Ihre Hände zitterten, Mutter war nirgendwo zu sehen. Sie wollte mir nicht erzählen, was passiert war. Sie sagte nur, dass Mutter nach einer ausführlichen Unterredung zugegeben habe, nicht mehr sie selbst zu sein, und dass sie vielleicht etwas Zeit für sich zum Nachdenken brauche. Der schwarze Wagen, der mir in der Auffahrt entgegengekommen sei, gehöre den netten Menschen vom Cedars, wohin sie sich für unbestimmte Zeit zurückziehen würde.
Und so kam es, dass mir die Obhut des Hauses zufiel. Egal, was Bel sagte, ich musste hart arbeiten, um den unergründlichen Elan des Hauses zu bewahren, um seine grundverschiedenen Elemente zu so etwas Ähnlichem wie einer Ordnung zusammenzufügen: Mrs Ps zerstreuten Geist, Bels pathologisches Beharren, jeden Aspekt ihres Lebens kontrollieren zu wollen, die Überspanntheiten oder kriminellen Neigungen von jedem, mit dem sie gerade ging, und dann das Haus selbst, Jahrhunderte aus Mauerwerk und Gebälk mit eigenen Launen, die zu besänftigen waren. Ich war derjenige, der das alles in Gang hielt, der den ganzen Tag im Haus blieb, nur um den Dingen ein klein wenig Mitte zu geben, um sie ein bisschen zu fokussieren. Es war ein harter Job, und niemand dankte ihn mir. Allerdings konnte man nicht erwarten, dass ich die Dinge jederzeit im Griff hatte; soll heißen, was danach passierte, war nicht ganz und gar mein Fehler, egal, was sie alle sagen.

Trotz all der Aufregung am Abend zuvor stand ich am nächsten Morgen früh auf. Ich musste dem Tierarzt die Garage aufsperren, damit er nach den Pfauen sehen konnte, die sich irgendwelche Parasiten eingefangen hatten. Ich war verantwortlich für die Pfauen. Zu Lebzeiten hatte sich Vater, der der Einzige gewesen war, der sie wirklich gemocht hatte, um sie gekümmert. Seitdem waren sie etwas vernachlässigt worden. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.03.2006