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Auf der Anhöhe stand ein Obelisk, den man zum Gedenken an die Freundlichkeit des Landadels gegenüber den einheimischen Bauern während des Hungerjahres 1741 errichtet hatte. Von dort hatte man einen Blick über die halb versteckten Dächer bis zu den blauen Bergen und der goldenen Sichel des Strandes. Neben dem Denkmal stand eine Zikkurat, ein kleiner babylonischer Turm. Die Legende besagte, dass man einen Wunsch frei habe, wenn man jede Ebene des Turms siebenmal umrundete. Aber weder Bel noch ich hatten es jemals bis ganz nach oben geschafft, und wenn wir es geschafft hätten, wäre uns wohl viel zu schwindelig gewesen, um überhaupt noch einen Wunsch äußern zu können.
Amaurot war groß und hunderte von Jahren alt. Als wir noch Kinder waren, glaubten Bel und ich, dass uns nie etwas Böses zustoßen könnte, so lange wir nur hier blieben. Die Welt draußen könnte in Flammen aufgehen, und wir würden einfach im Schatten der hohen Steinmauern weiterspielen. Was uns betraf, so war Amaurot die Welt - sie gehörte uns, wie die Wellen zum Meer und bestimmte Blautöne zum Himmel gehörten.

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as Haus stand am Fuß von steilen Hügeln auf einer Landzunge, die an zwei Seiten vom Meer umspült war. Zu jeder Stunde des Tages konnte man die See flüstern oder donnern hören, konnte man sehen, wie sie sich von Jadegrün in Amethystviolett, von Grau in tiefstes Schwarz verfärbte. Ich liebte sie als Gefährtin für meine Gedanken, als Ohr, der ich meine Wünsche offenbarte. Über die Rasenflächen führte in weitem Bogen eine stolze, lange Allee zurück zur Straße. Uralte Bäume, junge Bäume, wilde Blumen drängten sich dicht an dicht. Hinter dem Haus befanden sich der in den letzten Jahren ziemlich verwahrloste Gemüsegarten, Apfelbäume, Kirschbäume und ein Bach, der die Frösche hinunter ins Meer spülte. Hier hatten Bel und ich den Großteil unserer Kindheit verbracht, in hohem Gras, auf einem Teppich aus Kiefernnadeln.

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el war eine aufsässige Spielgefährtin gewesen. Sie machte lange Phasen durch, in denen sie mit niemandem sprach. Stattdessen las sie, tagelang, ohne Unterbrechung. Sie saß auf der Fensterbank, und ihre nackten Beine baumelten hin und her. Aber sie hatte Fantasie. An den Tagen, wenn sie von ihrem Sims heruntersprang und zu mir in mein Fort aus Holzlatten kam, da sprudelten die fabelhaften Gedanken, die die Bücher in ihr entfacht hatten, als verschachtelte Abenteuergeschichten aus ihr heraus, dass ich Mühe hatte, ihr zu folgen.

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ie las gern Geschichten über Russland, und Amaurot musste oft als Double für den Winterpalast herhalten. Manchmal waren wir Waisenkinder des Zaren, die auf der Flucht vor den Klauen der bösen Revolution in Phantomdreispännern unsichtbare Wüsten durchquerten. Manchmal war sie die schüchterne, bezaubernde Prinzessin und ich der forsche Freier, der alle Mühe hat, ihr Herz zu gewinnen. Ich hieß dann Karl und sie Tatjana, wie die Heldin aus Puschkins Eugen Onegin, ein Buch, das sie liebte, seit sie acht Jahre alt war. Selbst als die Spielzeuge und die Spiele für immer vergessen waren, hielt sie an dem Namen fest: Für ihre Schulfreunde hieß sie noch Tatjana, als sie schon ein Teenager war. Christabel war Vaters Idee gewesen, nach einem Gedicht von Coleridge - eine düstere und ziemlich deprimierende Geschichte über Nymphen und Vampire, die an einem Punkt abbricht, als völlige Verwirrung und allgemeiner Verdruss herrschen. Bel konnte den Namen nicht ausstehen. »Es ist ja nicht nur, dass kein Mensch den Namen buchstabieren kann«, wetterte sie in regelmäßigen Abständen. »Der Kerl hatÕs nicht mal bis zum Happyend geschafft. Ich meine, hätte man mir keinen Namen geben können nach einem Gedicht, dass wenigstens fertig ist? Ist das etwa zu viel verlangt?« Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss - Bel. Vater war der Einzige, der sie noch bei ihrem vollen Namen nannte.

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in und wieder schnappte ich auf, wie Mutter zu Vater sagte, Bel sei vielleicht ein Genie. »Wie sie liest!«, sagte sie. »Die Bibliothek ist praktisch leer. Ein Buch nach dem anderen schmuggelt sie raus.«
»Ich hab schon überlegt, ob wir nicht einen Billardtisch reinstellen sollen«, sagte Vater.
»Und was für eine Fantasie sie hat!«, fuhr Mutter fort. »Was für Sachen aus ihr raussprudeln, also wirklichÉ«
»Hmm É meinst du nicht, dass sie es mit ihrer Fantasie ein klein wenig übertreibt? Sie verbringt ziemlich viel Zeit in ihrer Traumwelt.«
»Das ist ein Zeichen von Intelligenz, Ralph. Glaub mir, unser Mädchen wirdÕs noch weit bringen.«
»Hey, Euer Hoheit«, sagte ich zu Bel, während ich Vater und Mutter von der Fensterbank aus belauschte. »Die Vesallen haben wir abgeschüttelt, jetzt hab ich Hunger. Wie wärÕs mit ein paar Äpfeln dort drunten in den WäldernÉ«
»Man sagt nicht ÝHeyÜ zu einer Prinzessin, Charles.« Dann hüpfte sie herunter. »Außerdem heißt es Vasallen und nicht Vesallen.« Durch ein Loch in der Hecke quetschten wir uns dann in den Garten vom alten Thompson und warfen herumliegende Zweige nach oben in den Baum, bis um uns herum die Äpfel dumpf auf den Boden aufschlugen und unweigerlich Olivier, Thompsons unheimlicher deutscher Diener, auf der Veranda auftauchte. »Mister Ssompsen, die klauen wieder Äpfel.«

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er alte Thompson kam dann nach draußen gehumpelt, fuchtelte mit seinem Stock und schrie: »Hinterher, Olivier, los, schnapp sie dir!« Und wir kreischten und liefen weg, während Olivier, die spindeldürre schwarze Spinne in ihrer engen Kunstfaseruniform, die Verfolgung aufnahm und wir immer noch gerade rechtzeitig durch das Loch schlüpften und der alte Thompson auf der anderen Seite weiterbrüllte. »Verdammte Brut, ich ruf euren Vater an, ihr verdammtenÉ«

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ch weiß nicht, ob er Vater jemals angerufen hat, und ich weiß auch nicht, ob ihm das überhaupt gut bekommen wäre. Es konnte sehr schwierig sein, zu Vater durchzudringen. Er steckte voller unerfüllter romantischer Ideen und nie ausgesprochener eigensinniger Hirngespinste. Er verbrachte lange Stunden im Büro oder in seinem Arbeitszimmer, und am Ende des Tages brachte er nur seine Hülle mit nach Hause. Den ganzen Abend verharrte er in überdrüssigem, wohlwollendem Schweigen, das er nur für abstrakte Vorträge oder lustlose Fragen über die Schule unterbrach. Aber manchmal wanderte er zwischen den Bäumen hindurch den Hang hinauf und schaute dann hinunter auf die flatternden Dunstschwaden des Meeres. Und manchmal nahm er Bel und mich auf diese Spaziergänge mit. Unruhig zappelten wir herum, während er hinaus in die Dunkelheit starrte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.03.2006