01.03.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Die Stimmung in Berlin

Endspiele und ein Finale:
Noch ist der Bär nicht los

Eine zweistellige Arbeitslosen-Quote. Ein hoher Schuldenberg. Niedrige Wachstumsraten.
Aber die Haupstadt freut sich trotzdem auf das WM-Fest. Dann soll nicht nur der Ball rollen.


»Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!« Dieser uralte Pokal-Schlager ist ein Hit - und gilt längst nicht nur für Fußball-Fans. Reiseziel Hauptstadt. Voller Stolz melden sie für 2005 eine Rekordmarke. 165 Millionen Besucher. Macht 375 000 Gäste täglich. Diese Zahlen hatten Experten erst 2010 erwartet. In Europa haben da lediglich London und Paris noch mehr zu bieten.
Aber Berlin ist eben immer eine Reise wert. Und im weltmeisterlichen Sommer 2006 sowieso. Denn hier steigt am 9. Juli um 20 Uhr im Olympiastadion das große Finale.
Allerdings: In der deutschen Metropole finden noch ein paar andere »Endspiele« statt. Endzeitstimmung herrscht zwar nicht, aber drei Monate vor dem großen Fußball-Fest ist die Lage ernst. »Tristesse liegt in der Luft« titelte die »Süddeutsche Zeitung«. Denn die vielbesungene Berliner Luft, sie ist stickig geworden.
60 Milliarden Schulden. Die Arbeitslosen-Quote liegt bei 17,2 Prozent. Berlin verzeichnet die mit Abstand niedrigste Wachstumsrate der deutschen Großstädte. Noch sind nicht alle Züge abgefahren, die Bundesbahn bleibt jetzt doch am alten Gleis-Standort.
Doch die sonnigen Zeiten der großzügigen Subventionen gehören der Vergangenheit an, die Zukunft sieht ziemlich düster aus.
Abeer die Berliner kann so schnell nichts mehr erschüttern.
Was haben sie in den vergangenen 70 Jahren erleben müssen: Die Bombardierung im zweiten Weltkrieg. Danach Luftbrücke. Stadt-Teilung. Mauerbau. Insel-Lage. Wiedervereinigung. Schuldenberg.
Na und? Was kommt jetzt?
Ach ja, die Fußball-Weltmeisterschaft. Die ist zwar noch ein paar tausend Strafräume weit weg, aber sie rückt immer näher. Tag für Tag. Da soll dann der Bär los sein, ganz fest versprochen.
Die ersten Bälle, die flogen bereits durch die Endspiel-Stadt.
Viele Treffer - doch ein paar Eigentore waren leider auch dabei. Die pompöse Eröffnungsfeier, der helle »Andre-Heller-Wahnsinn« für 25 Millionen Euro mit Eintrittspreisen bis zu 700 Euro, sie wurde vom Welt-Fußball-Verband (FIFA) abgesagt. »FIFA lässt Berlin hängen« weinte die »Berliner Zeitung« in ihrer Schlagzeile. An der Spree heulten sie auf, hatten aber nur kurze Zeit feuchte Augen.
Ein paar Tage später waren die Tränen schon getrocknet, der Senat hatte reagiert. Dann machen wir Berliner eben unsere eigene Eröffnungsfete. Wo? Natürlich an einem historischen Schauplatz. Am Brandenburger Tor.
Die richtigen Tore stehen im Olympia-Stadion. Aber was für ein Fehlpass! Diese Traditionsstätte geriet auch in die Negativ-Schlagzeilen. Die »Stiftung Warentest« stufte den Endspiel-Ort ganz schlecht ein, entdeckte »erhebliche Mängel«. Gerade renoviert und frisch poliert für stattliche 242 Millionen Euro. Und immer noch nicht sicher genug?
Die »Berliner Zeitung« reagierte auf Berliner Art - mit Humor. Eine Karrikatur zeigte den hosenlosen Löwen Goleo, dem ein Mann mit Sonnenbrille und Schlapphut mitteilte: »Tut uns leid, Goleo, aber aus Sicherheitsgründen brauchen wir ein anderes WM-Maskottchen.«
Keine Sorge, der Löwe darf weiterbrüllen. Aber am kritisierten Stadion wird jetzt doch noch nachgebessert. Der drei Meter tiefe Reportergraben zwischen Rängen und Spielfeld, als besonders gefährlich eingeschätzt, kann demnächst über zwanzig ausfahrbahre Gangways passiert werden.
Berliner Ball-Brücken vor dem Weltereignis, das in der Stadt selbstverständlich schon seit Monaten vorvermarktet wird. Souvenirs und Postkarten finden guten Absatz. Auch auf dem kulturellen Sektor ist bereits etwas los. Im Martin-Gropius-Bau lief bis Anfang Januar die Ausstellung »Rundleder-Welten«, am 22. Januar lasen 13 Schriftsteller Fußball-Texte. »Kopfball-Gipfel der Weltliteraturen« stand auf der Einladung. Und der Schwede Henning Mankell saß auch mit Tisch, der Krimi-Spezalist.
Hochspannung ist ja angesagt, wenn die Kugel in Deutschland endlich rollt. »Tatort« Berlin. Hier gibt es am 9. Juli die finale Ausflösung. Und die WM wird in der Stadt inzwischen immer sichtbarer. Der Senat entschied sich hier für ein Plakat. Eine großflächige Werbemaßnahme, die mit dem Portrait der U-21-Nationalspielerin Christine Schoknecht eröffnet wurde. An 465 Wänden sollen bis zum Anpfiff weitere zehn Berliner »Köpfe« für das Ball-Fest Reklame machen.
Gefeiert wird dann auch auf der Fanmeile. Die Straße des 17. Juni bekam den Zuschlag. Ein seriöser Betreiber wird noch gesucht, der Auflagen zu erfüllen hat: Eine Fress- und Saufzone soll es auf keinen Fall werden.
Einen großen Schluck aus der WM-Pulle dürften aber in jedem Fall die Hotel-Besitzer nehmen. Mit einer Auslastung von 90 Prozent wird gerechnet. Und es ist heute schon wie immer: Die besten Betten in den Fünf-Sterne-Herbergen sind längst gebucht. Für Funktionäre, die nicht bezahlen müssen, und von betuchten Fußball-Fans, die die 300 Euro pro Tag locker hinlegen können.
Na, dann gute Nacht! Das gilt auch für die deutsche Auswahl, die in der Hauptstadt ihr Haupt-Quartier beziehen wird. Die vornehme Adresse: das Schlosshotel im Grunewald. Da soll es abseits der lauten Metropole auch während der WM-Tage ruhig sein.
Unruhe herrscht dagegen zurzeit beim Berliner Vorzeige-Klub. Hertha BSC bietet seit Wochen miserable Vorstellungen. Eigentlich müssten sie zur Strafe sofort ihren Spielplatz räumen und in Moabit, Tegel oder Pankow kicken. Aber bitte nicht mehr im Olympia-Stadion - dem Austragungsort des WM-Finales 2006.

Ein Beitrag von
Klaus Lükewille

Artikel vom 01.03.2006