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Chinas Hauptstadt des Kapitalismus ist Shanghai

Riesige Industrieparks, billige Arbeitskräfte, unerkannte Einsteins

Aus China berichtet Edgar Fels
Shanghai/Peking (WB). Der Blick vom 88. Stockwerk des Jimmao-Wolkenkratzers auf die abendliche Skyline Shanghais raubt einem fast den Atem. Von hier aus zeigt sich Chinas 17-Millionen-MetropoleÊvon ihrer schönsten Seite. Die Stadt am Huangpu-Fluss ist ein einziges bunt glitzerndes Lichtermeer.

ErstÊ um 22.30 Uhr verlöscht ein Teil der Illumination. Ê ChinaÊ besinnt sich darauf, dass es viel mehr Energie verbraucht als es hat, weil in den Fabriken Tag und Nacht die Maschinen laufen. Das Reich der Mitte ist dem Namen nach zwar kommunistisch, doch in Wirklichkeit regiert ungezügelter Kapitalismus das riesige Land. Mit weit reichenden Folgen.Ê
Immer mehr Unternehmen wollen an dem Aufschwung in China teilhaben. 4000 deutsche Firmen, darunter 1200 Mittelständler, suchen im Raum Peking oder entlang der Ostküste Chinas ihr Glück mit Handel oder sogar Produktion.
Die Bedingungen scheinen gut. Die Regierung stampft gewaltige Industrieparks von der Größe einer Stadt wie Bielefeld mit Autobahnanschluss aus dem Boden. Und vor allem: Den Geschäftsleuten steht ein schier unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften zur Verfügung. Der gesetzliche Mindestlohn beträgt umgerechnet 85 Euro, ein Facharbeiter verdient bis zu 250 Euro. Gewerkschaften gibt es nicht, Kündigungsfristen im Prinzip auch nicht. Leiharbeiter, von denen es 200 Millionen im Land gibt, können von heute auf morgen entlassen werden. Samstags- oder Sonntagsarbeit? Kein Problem.Ê
Das führt zu abstrusen Geschäftsideen: So werden Fische aus der Nordsee auf eine vierwöchige Schiffsreise halb um den Globus in die Stadt Qingdao gebracht, um sie dort von chinesischen Frauen entgräten zu lassen. Dann geht die Fracht wieder zurück nach Deutschland.Ê
Die Mittelschicht, die sich Jeans für 80 Euro leisten kann, wird unterdessen größer. InÊ Ê schickenÊ Einkaufszentren mit viel Marmor, Glas und modernen WerbebildschirmenÊ finden sich heute alle namhaften Boutiquen. Für die kleine Schicht der Reichen gelten Kühlschrank und Fernseher längst nicht mehr als Statussymbole. Sie laufen mit dem Notebook unter dem Arm durch die Stadt und fahren Auto. Immer mehr VW, Hondas und Toyotas verstopfen die Straßen und verpesten die Luft. 2,3 Millionen Autos sind aber nur der Anfang. Denn in China haben erst 0,8 Prozent der Haushalte ein Auto.
Kein Wunder, dass sich insbesondere die Automobilindustrie hohe Renditen in Asien verspricht. Die Autobauer VW, BMW und Daimler-Chrysler drängen zunehmend auch ihre Zulieferer, sich in China niederzulassen. Unter den 110 deutschen Autozulieferern befinden sich mit Benteler undÊ HellaÊ auch Unternehmen aus Ostwestfalen-Lippe. Noch geht es darum, den chinesischen Markt zu bedienen. UnterÊ den Wirtschaftsexperten besteht aber kein Zweifel, dass die Supermacht China mehr und mehr auch die Märkte in Europa und den USA erobern will. Das neue Schlagwort heißt »going global«Ê - frei übersetzt: die Welt erobern.Ê
»Der Vorsprung des Westens schrumpft«, analysiert denn auch der Präsident der Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen-Lippe, Herbert Sommer, die Entwicklung. »Wir müssen uns auf ein chinesisches Jahrhundert einstellen.« Noch aber fehlt den Chinesen, was für den Verkaufserfolg ihrer Produkte ein entscheidender Vorteil wäre: ein Markenname. Das hindert sie aber nicht daran, munter zu kopieren.Ê Vor allem der Maschinenbau ist betroffen - zum Schaden der deutschen Wirtschaft.
Wenn es in China neben Energie an etwas mangelt, dann ist es die Qualität ihrer Produkte. Zwar entlassen Chinas Hochschulen Jahr für Jahr 600000 Ingenieure, doch das Niveau derÊ Abschlüsse sei mit denen in Europa nicht vergleichbar, sagt eine Mitarbeiterin der deutschen Außenhandelskammer in Peking. Hinzu komme, dass den Chinesen offenbar die Fähigkeit fehle, vernetzt und abstrakt zu denken. Sie seien seit Jahren auf das Auswändiglernen getrimmt. Dennoch - angesichts der 1,3 Milliarden Menschen, die mit unbändigem Willen nach mehr Wohlstand streben, warntÊ der IHK-Präsident: »Wer weiß, wieviel unerkannte Einsteins es in China gibt.«Ê
2008 richtet China die Olympischen Spiele aus, 2010 findet in Shanghai die Weltausstellung statt. Großereignisse, für die sich das Land herausputzt. Weit weg scheint das Pekinger Massaker von 1989, bei dem mehr als 900 Menschen starben. Auch wenn ChinaÊ vorsichtige Schritte in Richtung Demokratisierung macht, Tatsache ist, dass erst kürzlich ein Journalist, der die Korruption anprangerte,Ê entlassen wurde. Ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft weiß: »Da rollen schnell Köpfe.«

Artikel vom 22.02.2006