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Taugenichts
und Windhund

Morgen beginnt der neue Roman

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). So groß ist der Unterschied ja gar nicht zwischen einem Windhund und einem Windbeutel. Jener rennt im Kreis, und dieser dreht sich auf der Suche nach dem Sinn des Lebens um sich selbst. Morgen beginnt das WESTFALEN-BLATT mit dem Abdruck von Paul Murrays Roman »An Evening of Long Goodbyes«.

Fragt die Personalchefin, bei der sich der verhinderte Aristokrat um einen Job bewirbt: »Was können Sie denn?« Sagt Charles Hythloday: »Ich schaue mir gerne alte Filme an.«
Ein paar herrliche Wochen voller Amüsement stehen Ihnen bevor, liebe Romanfreunde. Der englische Titel muss Sie kein bisschen schrecken. »Ein Abend des nicht endenwollenden Abschiednehmens« ist bloß der - vielsagende - Name eines Windhundes, der in dieser irischen Schnurre drei Auftritte hat, zwei auf der Rennbahn, einen im Schlaraffenland eines alten Landsitzes.
Dortselbst residiert Charles Hythloday (24), ein Studienabbrecher und ein Snob und auch sonst ein rechter Taugenichts, dem Irlands moderne Gesellschaft höchst verdächtig vorkommt. Also flößt sich der gute Charles einen Gimlet ein, drapiert sich auf die Chaiselongue und überlegt, ob er vielleicht die Biographie einer längst verblichenen Filmschauspielerin schreiben sollte.
Charles möchte die Zumutungen der Arbeitswelt mit der Rückbesinnung auf das lässige Leben eines Landedelmanns beantworten und das Vermögen seines verstorbenen Vaters durchbringen. Die Einschreiben von der Bank sind ihm bloß lästig; Charles öffnet sie gar nicht erst, und so bleibt es seiner Schwester Bel vorbehalten, das Desaster aufzudecken: Geld, das man verprassen könnte, ist gar nicht vorhanden.
Die schauspielernde Bel versucht, den Familiensitz Amaurot zu retten, indem sie ihn zu einem Theater umfunktioniert. Mama Hythloday, soeben aus der Nervenheilanstalt zurück, macht die Honneurs. Charles' Beitrag (eigenen Unfalltod inszenieren, Lebensversicherung kassieren) geht grandios daneben. Und während sich auf Amaurot bosnische Kriegsflüchtlinge und labernde Künstler breitmachen, zieht sich unser beleidigter Taugenichts in Dublins Armenviertel zurück, wo er im Schlepptau des rustikalen Frank, Bels abgelegtem Liebhaber, in allerlei haarsträubende Situationen stolpert.
Abschied vom Vertrauten zu nehmen und sich in eine ungewisse Zukunft zu stürzen, ist das Leitmotiv dieses Romans, der Irlands gesellschaftlichen Wandel ironisch aufspießt. Der Windhund mit dem ulkigen Namen steht für die alte Grüne Insel, die - jedenfalls auf der Rennbahn -Ê den »Celtic Tiger«, das moderne Irland, locker abhängt. Wer jedoch Anton Tschechows (hier mehrfach erwähnten) »Kirschgarten« gelesen hat, ahnt, wohin die Reise geht . . .
Paul Murray, Jahrgang 1975, wurde für seinen witzigen Erstling mit Lob überhäuft und hätte fast den renommierten »Whitbread Prize« und den »Kerry Irish Fiction Award« gewonnen. »Höchst originell und lustig«, befand die »Sunday Times«. Quietschvergnügte Lektüre, sagen wir.
Murray studierte englische Literatur an Dublins ehrwürdigem Trinity College und Creative Writing an der East-Anglia-Universität. Danach arbeitete er eine Zeitlang als Buchhändler.
Paul Murray: An Evening of Long Goodbyes; Verlag Antje Kunstmann, München 2005; 576 Seiten, 24,90 Euro.

Artikel vom 23.02.2006