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Schön«, sagte ich.
»Die Entwicklung von Fotos kostet allerdings extra, und das Luchsauge behält sich vor, Negative zu behalten, die ihm gefallenÉ«
Er beschrieb mir den Weg zu seinem Büro, das eigentlich mehr eine kleine Doppelhaushälfte in einer Siedlung mit identischen Doppelhäusern ganz in der Nähe war. Ich klingelte, und nach einer Serie von Schließgeräuschen stand eine vertraute Gestalt vor mir: Es war kein anderer als unser phlegmatischer Postbote, der immer nach Gin roch und die Post nur dann austrug, wenn ihm danach war.
»WasÉ?«, sagte ich.
»C?«, sagte er.
»Aber Sie sind dochÉ«
»Keine Namen«, sagte er, schaute verstohlen nach links und nach rechts und winkte mich herein. Er selbst verschwand sofort in den Wasserdampfschwaden, die im Flur hingen. Ich folgte ihm, so gut ich konnte, und gelangte in einen Raum, in dem der Dampf noch dichter war. Ich machte ein paar blinde Schritte und stieß gegen etwas, das sich als Tisch entpuppte, auf dem ein voller Postsack stand. Zu beiden Seiten des Sacks lag ein Haufen Papier: Der eine bestand aus geöffneten Umschlägen, der andere mutmaßlich aus deren vormaligem Inhalt. Hunderte von Bögen mit handschriftlicher und maschinegeschriebener Korrespondenz.

G
elegentlich rissen die Dunstwolken auf, und so konnte ich mir nach und nach den Rest meiner Umgebung zusammenpuzzeln. Wir waren in einer Küche. Die Fenster waren mit Kondenswasser bedeckt. Auf Herd und Arbeitsplatte dampften gleichzeitig mehrere Töpfe und Pfannen. Auf jedem Gefäß ruhte auf einem provisorischen, aus Cocktailspickern zusammengeklebten Dreifuß ein verschlossener Briefumschlag.
»Tee?«, hörte ich von irgendwoher seine Stimme.
»Was geht hier vor? Ist das etwa die Post von ihrer Tour?«
»Moment, ich setze eben den Kessel auf«, sagte der Postbote durch den Nebel. Ich setzte mich an den Tisch und blätterte in den feuchten Briefseiten. Wie gehtÕs Onkel Harolds neuem Bein?É Bedauern wir Ihnen mitzuteilen zu müssen, dass Ihre Bewerbung É Wunderschöne und diskrete Mädchen É Lieber Bazzer, heute Morgen ist Mutter gestorben É
»Was soll das?Was machen Sie hier?«, fragte ich ungläubig.
Der Postbote schaute über seine Schulter. »Angefangen hatÕs als Hobby«, sagte er. »Und dann ist irgendwie was Größeres draus geworden. Wissen Sie, wennÕs irgendwo Probleme gibt, find ich gern die Lösungen dazu. Die Antworten. Das Leben ist voll von Fragen. Und nur die wenigen Privilegierten kommen an die Antworten ran.«
»Aber Sie können doch nichtÉ«
»Es ist wirklich erstaunlich, was die Leute in ihren Briefen so alles erzählen«, sagte er nachdenklich.
»Und diese É diese abscheuliche Verletzung der Privatsphäre nennen Sie also Detektivarbeit?«
»Auch wenn Ihnen das nicht gefällt«, sagte er, während er eine Teetasse vor mir auf den Tisch stellte und sich setzte. »Aber so kann ich Ihnen meine Goldsiegel-Erfolgsgarantie geben.«
»Hmm«, sagte ich.
»Also dann, zum Geschäftlichen«, sagte er. »Als ich Sie da vor der Tür hab stehen sehen, hab ich mir sofort gedacht: Der kommt bestimmt wegen dieser Hypothekengeschichte.«
»Ach ja?«, sagte ich.
»Ja. Ich hab gedacht, vielleicht wollen Sie Ihren eigenen Tod vortäuschen oder so. Für Leute in Ihrer Lage ist das nichts Ungewöhnliches.«
»Nicht dass Sie das irgendetwas anginge«, sagte ich überheblich. »Aber das Thema Hypothek ist kaum der Rede wert. Ein Versehen, nichts weiter. Tatsächlich bin ich gerade auf dem Weg zur Bank, um die Sache zu klären.«
Er lächelte nachsichtig. »Natürlich«, sagte er. »Schätze, dann hat sich das hier erledigt, oder?« Er zog ein einzelnes Blatt aus dem Haufen und gab es mir. Das Irelandbank-Logo in dem Briefkopf sah aus wie eine Kreuzung aus Euro-Zeichen und Hakenkreuz. In dem an ein Inkassobüro adressierten Schreiben stand, dass die Bank nun im Besitz der Rechtsvollmacht für den »nächsten Schritt« sei und dass man in Kürze mit der »Beitreibung der Forderung« beginnen könne.
»Ganz recht«, sagte ich und schluckte. »Eine Lappalie.«
»Dann kommen Sie also wegen Ihrer Schwester«, sagte er grinsend.
»Ja. Und noch etwas, Luchsauge. Wenn Sie über meine Schwester reden, lassen Sie doch freundlicherweise dieses lüsterne Grinsen, wennÕs recht ist?«

O
kay, okay«, sagte er freundlich. »Trotzdem, ziemlich attraktives Mädchen. Eine Schande, dass sie den Job nicht bekommen hat. Hätte gedacht, dass sie das locker schafft.« Nachdenklich blies er den Atem aus, schlug seine Beine übereinander und fummelte an einem Hosenaufschlag herum. »So ein Rückschlag kann einen wirklich umhauen«, sagte er noch.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Seine Allwissenheit fing an mich zu ärgern; es war, als unterhielte ich mich mit dem Zauberer von Oz. »Und ich will es auch gar nicht wissen. Zu diesen Mitteln zu greifen, bereitet mir alles andere als Freude, ich würde es also zu schätzen wissen, Luchsauge, wenn wir strikt bei der Sache blieben und Sie wenigstens so täten, als wüssten Sie nicht alles über unsere Familie.«
»Das ist nur fair.«
»Und noch etwas É Haben Sie keinen Namen? Das macht mich ganz irre, wenn ich dauernd ÝLuchsaugeÜ sagen muss.«
Er rieb sich das Kinn, seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Okay. Nennen Sie mich MacGillycuddy.«
»Also, zum Geschäft.« Ich wedelte mir ein Loch Frischluft aus dem Dampf und erzählte MacGillycuddy die ganze Geschichte von Franks plötzlichem und rätselhaftem Auftauchen. Ich berichtete von seiner undurchsichtigen Vergangenheit und seiner ebenso undurchsichtigen Gegenwart, von seinem verblüffenden Erfolg bei Bel, dem Verschwinden diverser Gegenstände aus unserem Hausstand und dem unheimlichen verrosteten weißen Lieferwagen.
»Ich verstehe nicht ganz, warum der Lieferwagen Sie so beunruhigt«, sagte er.
»Weil niemand weiß, was in dem Lieferwagen ist, darum.« Ich erzählte ihm von der Fahrt zum Windhundrennen, als ich heimlich einen Blick in den Laderaum geworfen und durch das verschmierte Gitterfenster verschwommen etwas gesehen hatte, das mich an Müllberge erinnert hatte.
»Stimmt, das ist ungewöhnlich,« sagte MacGillycuddy nickend.
»Mehr als ungewöhnlich. Der Kerl ist ein Soziopath. Kennen Sie sich ein bisschen mit jüdischem Brauchtum aus? Na ja, vielleicht sollten wir das jetzt nicht weiter vertiefen. Traurige Tatsache ist, dass meine Schwester auf Soziopathen abfährt, und wenn ich kein Auge auf ihn habe, dann ist er irgendwann weg, mit dem ganzen Haus und ihr dazu.«
»Dann wollen Sie also, dass ichÉ«

I
ch sagte ihm, dass er so viel wie möglich über Frank herausfinden solle: Wer er war, was er tat, was mit meinem Stuhl passiert war. »Im Wesentlichen alles, was ihn belastet«, sagte ich.
»Kein Problem«, sagte MacGillycuddy. »Kinderspiel. Geben Sie mir vierundzwanzig Stunden.« Ich gab ihm meine Nummer und einen Scheck als Vorschuss und stand auf.
»Grüßen Sie Ihre Mutter von mir«, sagte er zum Abschied zwinkernd. »Schön, dass Sie wieder da ist.«
Ich war versucht, dem auf den Grund zu gehen, doch der Anblick seiner begierig aneinander reibenden Hände war Warnung genug, keine weitere Büchse der Pandora zu öffnen. Ich wünschte ihm einen guten Tag und öffnete die Tür.
»Gruß auch an die Inkassojungs!«, rief er mir hinterher.
In Gedanken versunken ging ich zurück zum Einkaufszentrum. Das Inkassobüro war also schon eingeschaltet - eine ziemlich unsportliche Geste. Möglicherweise war die Unterredung doch mehr als nur die erwartete Formalie. Ich atmete tief durch und trat durch die Türen der Bank.

I
ch kam in einen langen, fensterlosen Raum, unter dessen niedriger Decke leblos ein einigermaßen geschmackvoller Ventilator hing. An der linken Wand befand sich ein lackierter Holzschalter mit angeketteten Stiften, Überweisungsformularen und Prospekten für Autokredite, Tracker Bonds und unergründliche Kapitalanlagepläne. Rechts standen ein paar unbequeme Stühle; eine Jalousientür führte in einen weiteren Raum, wo man Bargeld abheben und Wertgegenstände deponieren konnte. Nebeneinander an der Wand hingen zwei nicht zu übersehende Bilder. Eins zeigte eine blässliche Landschaft mit Bäumen, durch die weiches Sonnenlicht fiel. Darunter stand in großen, ehrlichen Buchstaben seriosität. Das andere war etwas extravaganter - brav im Wasser herumtollende Delphine vor einer Tropeninsel. premium-service stand darunter.

H
inter einem Schreibtisch vor der Wand am Kopfende des Raumes saß ein Mann in einem schlecht geschnittenen blauen Jackett und lächelte mich an. Er saß mit verschränkten Armen genau in der Mitte zwischen seinem Computerbildschirm und etwas, das wie eine Plastiktopfpflanze aussah. Wahrscheinlich saß er schon den ganzen Tag so friedlich lächelnd da. Über ihm hing ein Schild mit der Aufschrift »Information« und einem Pfeil, der nach unten auf seinen Kopf zeigte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.03.2006