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Sie hatte Angst, dass ihn sein Halsband drücken könnte. Sie hatte Angst, dass er anfinge, sich für einen Menschen zu halten, und sich dann deshalb minderwertig fühlte, weil er keine Haut, sondern ein Fell hatte. Sie hatte Angst, dass er sich nicht ausgefüllt fühlte. Sie hatte Angst, dass er sich nackt fühlen könnte, seine Eltern vermisste, sich vor der Dunkelheit fürchtete, sich ärgerte, weil er sich nur mit Bellen verständlich machen konnte, sich schämte wegen seiner Flöhe, nicht verstünde, dass er in der Abstellkammer schlafen musste. Auch in der Schule hörte sie nicht auf, darüber zu reden, und die Trennung von dem Hund machte alles nur noch schlimmer. Es dauerte nicht lange, und ihre Mitschüler waren so besorgt, dass der Lehrer den ganzen Tag nichts anderes zu tun hatte, als sie davon zu überzeugen, dass es unserem Hund gut ginge. Eines Nachmittags schließlich rief der Rektor Mutter an und deutete mit genervter Stimme an, es sei an der Zeit, etwas zu unternehmen. Noch bevor meine Mutter antworten konnte, war der Hörer an die tränenerstickte Bel weitergereicht worden, die Mutter fragte, ob sie bitte, bitte den Hund ans Telefon holen könne. Da reichte es Mutter. Als wir nach Hause kamen, war der Hund weg. Mutter sagte nicht, wo er war, nur, dass sie ihn »zurückgebracht« habe. Sie weigerte sich, auch nur ein einziges weiteres Wort darüber zu verlieren.

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eltsamerweise nahm Bel die Neuigkeit ziemlich ruhig auf, und schon bald schien sie den Hund völlig vergessen zu haben. Vielleicht hatte er seinen Zweck erfüllt. Wie durch ein Wunder hatte sich ihre Ängstlichkeit verflüchtigt. Sie fing an, nach der Schule Kurse in Sprechtraining und Schauspiel zu nehmen, und augenblicklich sprach sie über nichts anderes mehr. Sie entwickelte sich - Turbulenzen in Herzensangelegenheiten ausgenommen- zu einem glücklichen Teenager. Ich nehme an, dass für uns alle diese Jahre das goldene Zeitalter waren. Die Familie gedieh, alles schien gesichert. Ich schockierte Vater, indem ich es bis zum Kapitän des Cricketteams brachte, und dank der Unbeliebtheit dieses Sports in Irland gewannen wir sogar einige wenige Spiele.

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m die Zeit, als meine kurze Universitätskarriere startete, begann die dem Teenageralter schon fast entwachsene Bel wieder durchzudrehen. Der Arzt nannte diese Zeit die »hysterischen Episode«. Während eines Zeitraums von etwa sieben Monaten machte sie fast jede zweite Woche eine solche Episode durch. Diese mitzuerleben war ziemlich Furcht erregend: Krämpfe und Tränen und Kotzen und Stimmen. Sie lag schluchzend auf dem Bett, flehte uns um Hilfe an, konnte uns allerdings nicht sagen, wie, was überhaupt los war oder was für Mächte das waren, die sie attackierten. Der Arzt war nicht allzu besorgt; um diese Zeit machte er sich schon mehr Sorgen um Vater, den er für Tests ins Krankenhaus geschickt hatte. Diese Art von Labilität sei in Bels Alter nicht ungewöhnlich, sagte er. Das sei kaum mehr als eine ziemlich extreme Spielart adoleszenter Verwirrung, ein natürlicher Nebeneffekt des Erwachsenwerdens, kompliziert durch ihre Neigung, alles anzuzweifeln und überzuanalysieren, durch ihre fragile Beziehung zu Mutter und Vaters schwindender Gesundheit. Am besten sei, man betrachte es als eine Phase der Anpassung; manche Menschen passten sich leichter als andere an die reale Welt an. Er versuchte es mit verschiedensten Dosierungen verschiedenster Medikamente und stellte sie von der Schule frei. Schließlich wurde sie wieder normal, und jeder tat so, als sei nie etwas passiert. Vaters Zustand hatte sich rapide verschlechtert, und das Haus war voller weißer Kittel und seltsamer Apparaturen- es war einfach kein Platz mehr da, sich auch noch um Bel Sorgen zu machen.

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ber ich konnte nicht vergessen. Manchmal, wenn wir uns stritten oder sie sich über etwas aufregte, glaubte ich sie zu sehen, die Hysterie und die Angst, die nur auf ihre Chance warteten; sie umschlossen Bel wie bei einer Sonnenfinsternis der zitternde Lichtring die dunkle Scheibe. Was auch immer der Auslöser gewesen war, Angst und Hysterie schienen inzwischen so sehr zu ihr gehören, dass sie wohl nie mehr verschwinden würden. Deshalb nervte ich sie dauernd wegen der Jungen, die sie mit nach Haus brachte, deshalb beunruhigte mich ihre in letzter Zeit schwankende, sprunghafte Stimmung, die mir vorkam wie das zunehmende elektrische Prickeln, das ein Epileptiker kurz vor einem Anfall spürt. Vielleicht hatte sie das alles schon lange hinter sich gelassen - ich wusste, wie sie es hasste, für heikel oder unsicher gehalten zu werden. Aber für mich war die Erinnerung noch frisch. Vor allem anderen erinnerte ich mich an ihre Angst, an diese schrecklichen Tage, wenn sie schon morgens von hemmungslosen Weinkrämpfen gequält wurde und in ihren Augen die Angst stand, so riesig und unfassbar, dass wir beide stumm vor Entsetzen waren.
Die Bank befand sich in einem etwa anderthalb Meilen entfernten Einkaufszentrum. Noch am selben Nachmittag machte ich mich auf den Weg, um den Direktor zu sprechen. Ich war mir sicher, dass Bel die Geschichte unnötig aufgeblasen hatte, aber ich wusste auch, dass ich keine Sekunde mehr Frieden haben würde, bis die Sache geklärt war. Zudem bescherte sie mir eine brauchbare Tarnung, um mich einer anderen dringlichen Angelegenheit widmen zu können. Abkommen hin oder her, es verschwanden immer noch Einrichtungsgegenstände; ich wollte mir ein paar Hintergrundinformationen über unseren Freund, den Golem, besorgen.

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ur selten wagte ich mich so weit von zu Hause weg. Bel nahm das als weiteres Indiz für meine »feudale Weltanschauung«. »Du betrachtest dich als Gutsherrn«, sagte sie. »Und die Menschen da draußen sind deine Vasallen, mit denen du nichts zu tun haben möchtest - du könntest dir ja was einfangen.« Aber das stimmte ganz und gar nicht. Wie immer befiel mich auch jetzt, während ich vom Rücksitz des Taxis aus sah, wie die stolzen Küstenstraßen und schattigen Alleen den einengenden Vorstädten wichen, ein Gefühl der Platzangst und Bedrohung. Das Einkaufszentrum mit seiner mir fremden, genormten Schäbigkeit jagte mir Angst ein: der mit Preisnachlässen lockende Friseursalon, die Boutiquen mit ihren trostlosen pastellfarbenen Kitteln. Die Angestellten des Zeitungshändlers befanden sich in einem Zustand fortwährender Regression: Sie schienen auf der Leiter der Evolution gleich mehrere Sprossen auf einmal heruntergehüpft zu sein. Von ÝBitteÜ und ÝDankeÜ hatten sie sich schon vor langer Zeit verabschiedet; und eines Tages würde ich den Laden betreten und alle hockten auf dem Boden, nagten an Knochen und huldigten dem Feuer. Ich bezweifle, dass sie mir als Vasallen von großem Nutzen gewesen wären.

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ichtsdestotrotz war der Zeitungsladen das Ziel, das ich jetzt ansteuerte. Auf frisch verlegten Platten mit Kopfsteinpflastermuster schob ich mich vorsichtig durch eine Walpurgisnacht aus Damen mittleren Alters, deren Haare gebleicht waren, die Kunstlederjacken trugen und kreischende Kinder herumzerrten. Der Horizont auf der anderen Straßenseite wurde beherrscht von einer riesigen Reklametafel: »irelandbank: Wir sind immer für Sie da!«, stand darauf. »100 Wege für ein schöneres Leben für unsere Kunden.« Was mir als gutes Omen für mich und meine missliche Lage erschien. Doch dann schaute ich mir das Bild unter der Schrift an, auf dem die versammelten Angestellten der Irelandbank freudlos in die Kamera winkten. Es waren tausende: eine stumme Armee, die in uniformen blauen Jacken steckte, deren entsetzlicher Schnitt sie erst recht bedrohlich erscheinen ließ.
Das Schaufenster des Zeitungsladens war bepflastert mit Kleinanzeigen auf bunten Karteikarten. Ich las von oben nach unten - Kindermädchen, Rasenmähen, Katzenjunge, Mathenachhilfe - und fand schließlich, wonach ich suchte.

Luchsauge.
Eheliche Untreue? Erpressung?
Mobbing am Arbeitsplatz?
Das Luchsauge sieht alles.
Wir bestätigen Ihren Verdacht
Und beruhigen Ihre Seele.
Goldsiegel-Erfolgsgarantie.

Ich notierte die Nummer und machte mich auf die Suche nach einer nicht verwüsteten Telefonzelle.
»Ja?«, sagte eine vorsichtige Stimme. Sie klang tief und nuschelig, als wolle sein Besitzer noch den kleinsten Hinweis auf seine Identität vermeiden.
»Spreche ich mit dem Luchsauge?«, sagte ich.
»Möglich«, sagte die Stimme.
»Mein Name ist ChaÉ«
»Keine Namen!«, sagte die Stimme sofort.
»Na schön, also mein Name ist É C, und ich benötige Ihre Hilfe.«
»Eheliche Untreue? Erpressung? Mobbing amÉ«
»Nein, nein, nichts davon. Ich habe einen Burschen im Haus, der mir meine Möbel stiehlt.«
»Oh«, sagte das Luchsauge. »Sind Sie sicher, dass es sich nicht um eheliche Untreue handelt?«
»Ja«, sagte ich. »Es geht um den Freund meiner Schwester.«
»So, so«, sagte das Auge lüstern. »Sie wollen ein paar Fotos, stimmtÕs?«
»Nein. Hören Sie zu, Luchsauge, können Sie was für mich tun oder nicht?«
»Kommen Sie in mein Büro«, sagte das Auge. »The Savannah. Nummer 118. Kommen Sie allein. Das Luchsauge akzeptiert Bargeld und alle gängigen Kreditkarten.« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.03.2006