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Mein Ressort«, sagte Bel und warf Frank einen spöttischen Seitenblick zu. »Charles betreut Speis und Trank, und der Rest bleibt an mir hängen.
»Hauptsache, du denkst dran, mich zu betreuen«, sagte Frank anzüglich grinsend. Ihr entfuhr ein scheues Lächeln, und ich sah, wie sie unter dem Tisch mit ihrem bestrumpften Zeh seine weiße Socke anstupste. Ich hatte das entschiedene Gefühl, am falschen Ort zu sein, als sei die Erdkugel aus den Angeln gesprungen und hätte alles auf ihrer Oberfläche durcheinander gekegelt. So muss sich Ludwig XVI. gefühlt haben, sinnierte ich, als man ihn aus seiner Gefängniszelle zum Schafott führte und er zum ersten Mal begriff, dass diese lärmende, brüllende Horde von Nullen es tatsächlich ernst meinte mit ihrer Revolution.
»Also, was sind das jetzt für Briefe?«, sagte ich mit erhobener Stimme - für den Fall, dass sie meine Anwesenheit vergessen haben sollte.
»Die sind von der Bank, Charles!«, brüllte sie zurück und schlug mit beiden Handflächen auf den Tisch. »Von der Bank, von der Bausparkasse, von unseren Anwälten und von den Anwälten anderer Leute. Aber die meisten sind von der Bank.«
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. »Was wollen die bloß?«, sagte ich.
»Was sie immer wollen«, sagte Frank gequält. »Die schmeißen kein Geld für Briefmarken raus, bloß weil sie wissen wollen, wieÕs dir geht.«
»Geld. Die wollen Geld. Da sind Rechnungen dabei, die sind schon Monate alt. Telefongesellschaft, Elektrizitätswerk, Rundfunkgebühren.« Verzweifelt schleuderte sie die Rechnungen über den Tisch. »Aber die machen mir noch die wenigsten Sorgen. Die Bank, das ist der Hammer. Wir sind mit den Hypothekenzahlungen im Rückstand, und zwar weit im Rückstand. Die denken an Zwangsvollstreckung.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Worte einsickerten. Hypothekenzahlungen, Zwangsvollstreckung - das waren Begriffe, mit denen ich nur unvollkommen vertraut war, denen man in vornehmer Gesellschaft nur selten begegnete, außer in Geschichten, die man sich in den Stunden um Mitternacht im Flüsterton erzählte, etwa so, wie man über Krebs oder Abtreibung sprach, grässliche Dinge, die unglückseligen Fremden jenseits der Grenzen unseres Anwesens zustießen.
»Ich wusste gar nicht, dass wir eine Hypothek haben«, sagte ich.
»Charles!« Bel zupfte verzweifelt an ihren Haaren. »Dieses Hythloday Empire, über das du immer schwadronierst, ist nicht aus dem Nichts entstanden. Es ist auf Kredit gebaut. Genau genommen gehört uns nichts davon. Es sieht so aus, als hätte Vater sich ein Vermögen zusammengeliehen; die reden von Summen, die sind einfach astronomischÉ« Sie lehnte sich zurück, ihre Augen waren nur noch Schlitze. »Ich hab gewusst, dass so was passieren würde. Seit Vaters Tod hat Mutter einfach alles den Bach runtergehen lassen, ich glaube, mit dem Steuerberater hat sie seit der Beerdigung kein einziges Mal gesprochenÉ«

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n fremder Gesellschaft will man ja nicht als gewöhnlich dastehen, aberÉ »Wir sind doch noch reich, oder? Können wir nicht einfach zahlen, damit sie uns in Frieden lassen?«
Bel stand auf und fing an mit den Armen herumzufuchteln. »Herrgott, was geht bloß in deinem Schädel vor? He, was passiert da drin, wenn du mal nicht betrunken bist?«
»Keine Beleidigungen, bitte.« Mir war unwohl.
»Vater war Chemiker, Charles, Wissenschaftler, er war kein gottverdammter Kaiser, er war nicht Karl der Große. Selbst sehr gut bezahlte Wissenschaftler verdienen nicht so viel, dass sie sich so ein Haus leisten könnten. Hast du da jemals drüber nachgedacht?«
»Er hatte Kapitalanlagen.« Aus irgendeinem Grund hatte ich das Bedürfnis, Vater in Schutz zu nehmen. »Irgendwelche Vermögenswerte, so was ebenÉ«
»Ach ja, und wo sind die? Wo sind die, Charles? Ich hab keinen Schimmer, wie er sich das gedacht hat. Auch wenn er nicht gestorben wäre, weiß ich nicht, wie er das alles hätte zurückzahlen wollen. Und seit seinem Tod hatten wir kein geregeltes Einkommen mehr; dann die monströse Erbschaftssteuer und all die anderen Ausgaben, Mutters Klinik, dein Alkoholismus, dieser lächerliche Turm. Außerdem brauchen wir im Moment, weiß der Himmel, warum, Unsummen für LebensmittelÉ«
Ich biss mir auf die Lippen. »Was genau heißt das jetzt?«
»Dass es nicht reicht, Charles. Es ist ganz simpel nicht genug Geld da, um die Schulden zu bezahlen.« Als wäre sie plötzlich todmüde, ließ sie den Kopf gegen die Rückenlehne sinken. Sonnenlicht drang durch die Vorhänge aus Chantillyspitze und ließ einzelne Strähnen ihres Haars golden aufleuchten. Das Gespräch mit Laura schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. »Im Augenblick weiß ich keine andere Lösung, als einen Teil unserer Aktien zu verkaufen. So gewinnen wir wenigstens etwas Zeit.«
»Ah, richtig, die Aktien«, sagte ich gleichmütig.
»Meine liegen noch in dem Treuhandfonds fest, also müssen wir erst mal deine nehmen«, sagte sie und blinzelte mich mit roten Augen an. »Wir rechnen das dann später ab.«
»Sicher, klar.« Jetzt war definitiv nicht der geeignete Zeitpunkt, ihr zu erzählen, dass ich vor ein paar Monaten eine Pechsträhne am Bakkarattisch gehabt hatte. Stattdessen setzte ich ein falsches Lächeln auf und sagte, sie solle sich keine Sorgen machen. »Banker sind doch vernünftige Menschen«, sagte ich. »Außerdem haben die in den letzten Jahren tonnenweise Geld von uns bekommen. Ich bin sicher, dass noch nie jemand sein Haus verloren hat, nur weil mal ein paar Briefe in der falschen Schublade gelandet sind. Das ist doch absurd. Ich werde noch heute hinfahren und mit denen reden. Das ist alles nur ein Sturm im Wasserglas, ganz sicher.«
»Ha«, merkte Frank an, der eingehend mit der Säuberung seiner Gehörgänge beschäftigt war.
»Was ÝhaÜ?« Was soll das heißen, ÝhaÜ?«, fuhr ich ihn an. Irgendwie war das Ganze ja seine Schuld.
»Meine Mom hatten die Scheißbanken ihr ganzes Leben lang am Wickel«, sagte er in seine Teetasse. »Sie hatte nie einen einzigen eigenen Penny, und trotzdem warÕn sie dauernd hinter ihr her. Sie hat uns immer diesen Witz erzählt: Was ist der Unterschied zwischen Õner Bank und der Hölle?«
Bel und ich schauten ihn an.
»In der Hölle drehen sie dir wenigstens nicht die Heizung ab«, sagte er.
»Und das soll ein Witz sein?«, kreischte ich.
Er zuckte mit den Achseln. »Schätze, das ist das Komischste, was Banken so draufhaben.«

I
ch red mit denen«, sagte ich und überließ sie ihrer Sockenrubbelei, die hoffentlich zu Bels Beruhigung beitrug. Ich mochte nicht, wenn sie sich aufregte. Man sah es ihr vielleicht nicht an, aber sie war ein fürchterlicher Angsthase. Wegen der belanglosesten Dinge konnte sie sich völlig verrückt machen. Sie war schon immer so gewesen, schon als kleines Mädchen. Als andere Kinder noch an den Weihnachtsmann und die Zahnfee glaubten, quälte sie die Vorstellung vom Tod unserer Eltern. Wenn Vater und Mutter das Haus verließen, war sie davon überzeugt, dass sie nicht mehr zurückkommen würden. Sie erzählte ihnen nie davon, aber wenn das Auto aus der Einfahrt verschwunden war, ging sie in ihr Zimmer und blieb dort regungslos sitzen und dachte nur Gutes über sie, bis sie sicher wieder zu Hause waren. Und das war nur ein Beispiel aus ihrem selbst für damals schon breiten Ängstespektrum. Sie hatte Angst, dass sie etwas verlieren könnte. Sie hatte Angst, dass sie etwas zerbrechen oder dass etwas auslaufen könnte. Sie hatte Angst vor Räubern und gefährlichen Autofahrern. Sie hatte Angst davor, was nach ihrem Tod aus ihren Puppen würde. Bezüglich des Königreichs der Tiere hatte sie eine Unmenge an Ängsten: Wo bekamen sie im Winter ihr Fressen her, wo schliefen sie, wenn die Menschen überall alles zubauten, wie schafften sie es unbeschadet und ohne fremde Hilfe von einer Straßenseite zur anderen? All das war jedoch nichts im Vergleich zu den herkulischen Angstschüben, als unser erstes und einziges Haustier (nicht gezählt die Pfauen, die für mich auch nicht zählten) in unseren Haushalt Einzug hielt: ein liebenswerter, wenn auch leicht erregbarer Springerspaniel, der letztlich noch nicht einmal so lange in unserem Haus weilte, dass es zu einem eigenen Namen gereicht hätte.

N
ahezu im selben Augenblick, als er zur Tür hereinkam, stellte Bel die Diagnose, dass der namenlose Hund, ein argloses Geschenk unseres Vaters für uns beide, an einer Schwindel erregenden Vielzahl von existenziellen Ängsten litte. Im Nachhinein war es ein klarer Fall von Übertragung: als ob sich mit dem Auftauchen des Hundes alle Schleusen geöffnet hätten und all das Grauen, das sich unerklärlicherweise in ihrer kleinen Seele angehäuft hatte, jetzt aus ihr herausströmen konnte. In den zwei Wochen, die der Hund in Amaurot bleiben sollte, widmete sie sich ganz der Aufgabe, als Sprachrohr des gepeinigten Tiers aufzutreten. Sie blieb Nacht für Nacht auf, schlief nicht mehr, wanderte mit dem brav hinter ihr hertrottenden Hund im Haus herum und berichtete jedem, der es hören wollte, von seinen Kümmernissen. Sie hatte Angst, dass er einsam sei. Sie hatte Angst, dass er Hunger haben könnte. Sie hatte Angst, dass er zu abgerichtet oder zu wenig abgerichtet sei. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.03.2006