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Der Metallring war vermutlich für die Schlüssel des Hauses, das mir nicht mehr gehörte.
»Keine Ursache«, sagte er herzlich. »Und alles Gute noch.«
Als ich am Supermarkt vorbeiging, sah ich Mrs P, die in ein Gespräch mit einer ausländisch aussehenden Frau vertieft war. Die Frau trug ein Namensschild am Revers und verkaufte Zeitschriften. »Meine sind in kleinem Zimmer«, sagte sie gerade. »Über Metzgerladen. Wir zahlen und zahlen, und wenn er sagt, oh, oh, Polizei, großer Ärger, dann zahlen wir mehrÉ«
Ich hielt mir die Hand vors Gesicht und drückte mich spitz und flach atmend an ihnen vorbei. Was ging hier vor? Was hatten sie zu bedeuten, diese Unregelmäßigkeiten? Was konnte daran so kompliziert sein, dass man nicht wenigstens anfangen konnte, sie zu entwirren? Mir jedenfalls erschien die Lage ziemlich klar: Da war Vater, er hatte Vermögen, und es war jede Menge Geld da, es musste einfach da sein.

N
ach Luft schnappend lehnte ich mich an eine pseudokorinthische Säule. Bilder aus einem Albtraum rasten durch meinen Kopf: Horden von roboterhaften Arbeitern in Blaumännern mit toten Golem-Augen strömten ins Haus, rissen es ab und errichteten stattdessen ein Luxusapartmenthotel oder einen Entertainmentkomplex oder legten das achtzehnte Loch für einen quer durch den ganzen Ort führenden Golfparcours an É
Es gab hier nichts mehr zu tun für mich. Ich löste mich von der Säule und beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Das würde mich beruhigen. Ich ging die Ballinclea Road hinauf und durch die Eisentore des Killiney-Hill-Parks.
Doch anstatt mich zu beruhigen, schienen sich die Parkwege - meine Parkwege, auf denen ich tausendmal geschlendert war - gleichgültig unter mir davonzuschlängeln.
Die sich im Wind beugenden Bäume sahen aus wie ältere, missbilligend die Köpfe schüttelnde Herrschaften, und die Vögel kreischten und jammerten, als wollten sie Alarm schlagen. Die Berge, der Himmel, der dunkle Stechginster, die graublau wogende See - alles war unsichtbar, verschluckt von den Nachmittagswolken; wie einem unwürdigen Passanten versagten sie mir ihre Schönheit.
Bald begann es zu regnen, und als ich in Amaurot ankam, war ich durch und durch nass. Ich ging die Auffahrt hinauf, und in den wogenden Schleiern des Regens tauchte das Haus auf. Ich glaubte, auf meinen Schultern sein Gewicht zu spüren. »Ich kann das nicht!«, flüsterte ich. »Du bist zu schwer!« Und je näher ich kam, desto weiter zog sich das Haus in den Regen zurück.
Es schüttete jetzt. Ich ging in die Küche, um mir ein Handtuch zu holen. Durchs Fenster sah ich Mrs P, die mit einem Korb Wäsche entlang der windgeschützten Seite des Turms Richtung Wäscheleine schlich. Mit einem von Bels Theatermagazinen über dem Kopf lief ich hinter ihr her. »Was machen Sie hier draußen?« Sie blieb ruckartig stehen und riss die Schultern hoch. »Geben Sie mir den Korb«, sagte ich und griff danach. »Sie können doch im Regen keine Wäsche aufhängen.« Wortlos gab sie mir den Korb. Ich schaute mir den Inhalt an: Decken, Handtücher, Bettlaken und einmal mehr diese schrecklichen Unterhosen, in denen reichlich Platz war für Grauen und dunkle Geheimnisse. Alles war trocken und gebügelt. »Gehen Sie ins Haus«, befahl ich ihr streng. Mrs P schaute mich an, als würde sie jede Sekunde anfangen zu weinen. »Gehen Sie ins Haus und legen Sie sich ins Bett. Ich entbinde Sie von Ihren Pflichten, bis der Arzt Sie angeschaut hat.«
Und dann fing sie tatsächlich an zu weinen. Ich stellte den Korb auf den Boden, hakte sie unter und führte sie zum Haus zurück. Während wir über das nasse Gras gingen, schluchzte sie ohne Unterbrechung, und ich kam mir vor, als führte ich einen Gefangenen zum Schafott. In der Küche setzte ich sie auf einen Stuhl und machte ihr einen Tee.
»Was ist los?«, fragte ich. »Was ist los mit Ihnen?« Aber sie wedelte nur mit den Händen vor ihrem Gesicht herum, bevor sie ihren Tränen wieder freien Lauf ließ.

I
ch stand am Spülbecken und schaute hinaus in den Regen und in den Himmel, der von dem gleichen stumpfen Grau war wie die Ziegel des Turms. Plötzlich fühlte ich mich wie in der Bank, ich glaubte zu ersticken. »Ich muss nachdenken«, sagte ich und ging auf die Hintertür zu. »Und Sie legen sich hin und ruhen sich etwas aus.«
Obwohl Mrs P aussah, als hätte sie seit Wochen nicht mehr geschlafen, sprang sie auf und zerrte mich zurück. »Bitte, Master Charles, nicht. Gehen Sie nicht nach draußen!«
»Ich will den Korb reinholen«, sagte ich. »Die Wäsche wird nass.«
Aber sie hörte mir gar nicht zu. »Der Regen«, sagte sie. »Sie holen sich Erkältung.«
»Schon gut, schon gutÉ« Ich setzte mich wieder an den Tisch. »Zufrieden?«

»Gut.« Sie wischte sich die Backen ab und versuchte, die Vergnügte zu spielen. »Jetzt ist alles gut. Hier drin wir sind trocken und sicher. Ich mache Ihnen heiße Schokolade, und Sie schauen Fernsehen, ja?«
So sehr ich mich auch mühte, ich konnte sie nicht dazu überreden, sich hinzulegen, bevor sie mich nicht auf die Chaiselongue verfrachtet hatte - samt einer Tasse heißer Schokolade, die auf dem Boden stand, wo vorher der Tisch gestanden hatte.
Wie es der Zufall wollte, lief gerade ein Film: The Killers alias A Man Alone - die in Rückblenden häppchenweise enthüllte Ermordung des anständigen Burschen Burt Lancaster durch die treulose Ava Gardner. Ich legte entspannt den Kopf zurück und versuchte einzutauchen in die Welt der nackten, dunklen Wohnung, in der Lancaster rauchend auf seine Mörder wartete.
Aber es ging nicht. Ich dachte an die unmögliche Hypothek und die strapaziöse Unterredung mit dem Bankangestellten. Alles schien irgendwie auf Frank zu verweisen: dass nach all den Jahren, trotz all der von Vater hochgezogenen Festungsmauern eine kleine Krebszelle Realität schließlich doch durchgeschlüpft war. Und diese bildete jetzt unerbittlich Metastasen.

E
ine Stunde später, als Bel und Frank eintrafen, großer Aufruhr. Frank hielt sich den Kiefer, den ein großer, purpurroter Bluterguss zierte. Bel veranstaltete einen Riesenwirbel und holte aus dem Bad Jod und Wattebäusche.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Ögh, ögh«, brummte Frank. »Idiot, diesche Dcheckschau.«
»Es war der Idiot«, übersetzte meine Schwester. »Erinnerst du dich nicht, neulich im Pub?«
Ob ich mich erinnerte? Das weiße Knubbelgesicht des Idioten hatte sich gleich in mehrere meiner vielen Albträume der jüngsten Vergangenheit geätzt. Laut Bel waren er und seine Kumpels Frank von der Arbeit nach Hause gefolgt und hatten ihm später, als er auf dem Weg zu ihr war, aufgelauert. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.03.2006