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Dann schaute sie mich an und sagte in ungewohnt bitterem Ton: »In Jugoslawien, Männer kommen mit Fragen. Ist nicht gut, wenn sie kommen.«
Gehörte ich jetzt schon zur Geheimpolizei? »Sie brauchen mir ja nicht zu antworten«, sagte ich. »Wenn Sie mir vom Elend Ihrer Familie erzählen wollen, gut, wenn nicht, ist es mir auch egal. Ich will bloß nett sein. Ich weiß sowieso Bescheid, schließlich schau ich ja Nachrichten.«
»Sie wollen wissen über meine Familie?«, rief sie aufgebracht. »Gut. Vor fünf Jahren, mein Mann ist Architekt, und ich geben Rechtshilfe für Leute ohne Geld, zwei Söhne in Universität, eine Tochter will werden berühmte Schauspielerin. Und jetzt? Nichts. Haus weg, Geld weg, wir verstecken uns, dann wir fliehenÉ« Sie schlug sich die Schürze vors Gesicht. An der Stelle über der Nase hüpften kleine Entchen auf dem Baumwollstoff auf und ab.
Ich hatte nicht mal gewusst, dass sie Kinder hatte. »Wo sind sie?«, fragte ich so sanft ich konnte.
»Und jetzt ich backen Zimtschnecken für Sie!«, sagte sie schluchzend und lief aus der Küche.

W
as konnte ich tun? Ich konnte ja schlecht hinter ihr herlaufen; schließlich war sie die Haushaltshilfe, ihre privaten Geschichten waren nun wirklich nicht meine Sache. Sich mehr um sie zu kümmern, war möglicherweise doch keine so gute Idee gewesen. Wir wussten tatsächlich nicht das Geringste über sie. Eines Tages stand sie einfach vor der Tür. Sie kam auf eine Anzeige, die, wie wir später erfuhren, auf mysteriöse Weise ins Schaufenster des Zeitungshändlers im Ort gelangt war. Wie es sich begab, hatte Mutter ohnehin daran gedacht, eine neue Hilfe einzustellen, da die letzte, ein entzückendes kleines Aupairmädchen aus Frankreich, einige Monate zuvor das Haus verlassen hatte, nachdem es auf unserer Weihnachtsparty zu einer Misshelligkeit mit Pongo McGurks gekommen war - der natürlich völlig unschuldig war, aber man weiß ja, wie Aupairmädchen sind. Und so war Mrs P in unseren Haushalt gekommen. Damals ging es Vater schon sehr schlecht, und niemand hatte je daran gedacht, sie nach ihrer Vergangenheit zu fragen. Erst jetzt kam mir der Gedanke, dass ihr das vielleicht ganz recht gewesen war.

Nachdenklich aß ich noch eine Zimtschnecke, nahm dann das Blech und ging nach oben in Vaters Arbeitszimmer. Ich kaute vorsichtig; der Punkt war, dass man sich der Güte ihrer Koch- und Backkünste nicht mehr sicher sein konnte. Es schmeckte gut, aber wer konnte wissen, welche Ingredienzen in die Rührschüssel gewandert waren, verwirrt, wie sie war? Und wenn nicht heute, was war morgen beim Frühstück? Oder beim zweiten Frühstück? Dem Lunch? Zum Tee? Zum Abendessen? Und übermorgen folgte die nächste tödliche Runde, russisches Roulett, mit jedem Bissen drehte sich die Trommel ein Stück weiterÉ
Ich kam zu dem Schluss, dass ein oder zwei Glas Wein meine Nerven beruhigen würden, und ging in den Keller. Hmm. Ich sah jetzt, was Bel meinte. Die Vorräte hatten in letzter Zeit tatsächlich starke Verluste erlitten. War es möglich, dass ich eine derartige Menge ganz allein vertilgt hatte? Oder konnte es sein, dass ich Hilfe von anderer Seite gehabt hatte? Ich ballte die Fäuste und stieß einen Fluch aus. Frank! Ich sah ihn direkt vor mir, wie es ihn im Laderaum seines verrosteten weißen Lieferwagens lautlos schüttelte vor Lachen, während er aus der Flasche einen Marsannay in sich hineinschüttete. Oder auf der Hunderennbahn, wo der grüne Flaschenhals aus dem Kragen seiner Windjacke hervorlugte, während er den Erlös für unsere Ottomane durchbrachte. Oder É Plötzlich schoss mir ein neuer Gedanke durch den Kopf: Vielleicht war es gar nicht Frank, vielleicht hatte Mrs P den Wein getrunken. Vielleicht war sie eine heimliche Trinkerin, wie die Frau, die für Boyd Snooks die Wäsche machte und die er schlafend im Hundekorb gefunden hatte. Würde das ihr seltsames Verhalten nicht erklären? Natürlich nur, wenn es kein Symptom ihres Zusammenbruchs war É Allmächtiger, wir lebten mit einer Zeitbombe!

A
n dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass solche Dinge nicht völlig neu für mich waren. In den vergangenen Monaten hatte ich so manche übernatürliche Erfahrung gemacht. Seit Mutter außer Haus war und ihre Nörgelei mich nicht mehr ablenken konnte, so meine Theorie, war ich für Botschaften aus der Geisterwelt empfänglicher. Über den Schauer, das heißt, die Gewissheit, dass die Spätfilme mich aus dem Fernseher anschauten, habe ich schon gesprochen. Oft waren die Visionen jedoch von feindseligerer Spielart. Wenn ich mich nach einer langen Nacht aus dem Fenster lehnte und meinen aufgewühlten Verstand zu besänftigen suchte, hatte ich mehr als nur einmal riesige, koboldartige, Frank nicht unähnliche Gestalten gesehen, die im Schatten des Turms herumtorkelten oder sich wie eine stumme Drohung mühsam über den Rasen schleppten.
Ob diese Erscheinungen schon immer in Amaurot heimisch waren, oder ob sie als eine Art warnende Boten erst kürzlich zugezogen waren, wusste ich nicht. Welcher Lesart man auch zuneigt, diese spezielle Engelsvision erschien mir günstig. Ich meine, gegenüber einem Kobold stellt ein Engel eindeutig eine Verbesserung dar. Symbolisch gesprochen, bedeutete diese Vision, dass der Turm (der mich, Charles, und auch unsere gesamte Familie repräsentierte) weiter wachsen würde und sich gegenüber den Anfechtungen der viehischen Welt (symbolisiert durch Frank, wenn man so will) als überlegen erweisen würde.

I
ch tippte mit dem Zeigefinger an einen imaginären Hut, sozusagen als Dank an meinen Vater für das gute Omen, ging wesentlich optimistischer gestimmt zurück in mein Zimmer und merkte erst, als ich mich auf ihm niederlassen wollte, dass der Schreibtischstuhl nicht da war. »Holla!«, sagte ich zu der Decke, die mir in meiner neuen, horizontalen Lage ins Blickfeld gerückt war.
Ich rappelte mich auf, durchsuchte das Zimmer und schaute hinaus auf den Gang. Keine Spur von dem Stuhl. Das war ärgerlich. Der Stuhl war nicht teuer, nicht mal ansehnlich; er war vom Dachboden in mein Zimmer gelangt, nachdem sein Vorgänger dem Wurmfraß erlegen war. Sein Diebstahl offenbarte ein bis dahin ungeahntes Maß an Dummheit auf Seiten des Übeltäters. Im Haus gab es haufenweise schönere Dinge zum Stehlen. Dass er dieses wertlose Stück ausgewählt hatte, gerade als ich mich darauf setzen wollte, war äußerst unangenehm. In diesem Augenblick hörte ich sie hereinkommen. Kichernd gingen sie die Treppe hinauf zu Bels Zimmer. Ich hatte nicht übel Lust, ihn hier und jetzt zur Rede zu stellen. Tatsächlich hatte ich schon die Pantoffeln an und war schon fast an der Tür, als ich vor meinem inneren Auge das schreckliche Bild sah, wie ich sie mittendrin bei etwas überraschte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.03.2006