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Buchmarkt

Viel mehr Zeilen als ein
Fußballspiel Minuten hat

Wer alle Bücher lesen will, die zur Fußball-WM in Deutschland erscheinen, braucht mehr als eine Verlängerung. 613 Titel sind in diesem Jahr bereits erschienen oder kommen noch auf den Markt. 2498 Bücher aus vergangenen Jahren sind noch lieferbar. Fast jeder Verlag möchte vom enorm hohen Interesse an dem sportlichen Großereignis in Deutschland profitieren.


Das Fachmagazin »buchreport« spricht von Überproduktion, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Frankfurt von einer »breiten Welle von Veröffentlichungen«. Unter den Sachbüchern haben die aus dem Bereich Sport einen Anteil von fünf Prozent. 2006 ist das anders: Olympia in Turin und Fußball in Deutschland lassen die Druckerpresse anspringen und füllen die Regale der Buchläden. Erscheinen in normalen Jahren, also in solchen ohne sportliche Großereignisse, zwischen 700 und 800 Titel, schnellt die Zahl in Jahren mit auf bis zu 1500 an.
Doppelt so viele Bücher bedeuten nicht automatisch doppelt so viel Qualität. Vielfach betätigen sich Verlage als Trittbrettfahrer und bringen Bücher auf den Markt, die mit Fußball die Welt erklären wollen. Da wird über Hunderte von Seiten Philosophie der dürftigsten Sorte ausgebreitet. Wenn es um das runde Leder und ihre Protagonisten geht, bleibt 2006 keine Facette unberücksichtigt. In »Fußball für Dummies« werden den Unbedarften die Spielregeln erklärt, Fortgeschrittene lesen alles über die zwölf Stadien, und wer auf Partys mit Anekdoten glänzen möchte, findet so manches Kuriositätenbuch über den Volkssport.
Weil Fußball mehr ist als Fouls und Tore, Kicker mehr sind als schlenzende Roboter, finden die Biographien von Kaisern wie Beckenbauer und traurigen Helden wie George Best ihre Leser. Der Medienkonzern Bertelsmann aus Gütersloh setzt auf Zahlen und Statistiken. Der Konzern darf exklusiv die Lizenz des Weltfußballverbandes Fifa verwerten. Neben Kalendern und Magazinen bringen die Ostwestfalen Wissenssammlungen unters Volk: die »Chronik des deutschen Fußballs« etwa oder das »Kinder Fußballlexikon«. Damit Frauen endlich die Abseitsregel kapieren, liegt »Ich sag dir alles. Fußball« im Regal.
Lange Zeit wurden Titel über Fußball als »Kaufhausbücher« abgetan. Das hat sich grundlegend geändert: Der Sport hat sich etabliert, Professoren stehen neben VW-Arbeitern an der Würstchenbude im Stadion. Apropos satt werden: Angesichts der Flut von Neuerscheinungen droht das Völlegefühl. »Autoren haben Fußball als Markt für sich erkannt«, sagt der Paderborner Buchhändler Antonius Linnemann. 1974, als die besten Kicker des Globus zum letzten Mal in Deutschland ihren Weltmeister ausspielten, habe es das so nicht gegeben, erinnert er sich. Damals seien die Buchhandlungen stärker literarisch orientiert gewesen.
32 Jahre später lässt Linnemann in seinem Haus an der Westernstraße jeden Samstag abend die Ergebnisse der Fußball-Bundesliga durchsagen und betrachtet die mit Büchern über das runde Leder prall gefüllten Tische. Die Stimmung im Land sei positiv, das Interesse am Fußball hoch, die Bereitschaft, Bücher über den Volkssport zu erwerben, wachse. Auf Einladung Linnemanns liest Joachim Masannek am 18. März im Cineplex Paderborn aus seinen Jugendbüchern »Die wilden Fußballkerle«. Als Linnemann die Veranstaltung in der Zeitung angekündigt hatte, verkaufte er in drei Tagen 400 Karten.
2006 werden alle Deutschen, ob jung oder alt, vom Erlebnis Fußball gepackt. Je weiter die »Klinsmänner« im Turnier kommen, desto länger wird sich die Begeisterung halten, ist Linnemann überzeugt. Und dann würden auch Bücher, die die WM zusammenfassen, ihre Käufer finden. Linnemann: »Nach einem schönen, erfolgreichen Turnier wollen die Leute die Atmosphäre immer wieder neu in den Kopf kriegen.«


Ein Beitrag von
Dietmar Kemper

Artikel vom 01.03.2006