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Eins
Draussen vor dem Erkerfenster blies ein schwarzer Wind. Schon den ganzen Nachmittag spielte er seine Spielchen. Haufenweise klaubte er Laub auf und scheuchte es über den Rasen, wirbelte die Wetterfahne vom alten Thompson mal in die eine, mal in die andere Richtung, und riss raffgierig an Bels rubinrotem Ledermantel, die sich die Einfahrt hinunterkämpfte, um pünktlich zu ihrem Vorsprechtermin zu kommen. Hin und wieder hörte ich, wie er hinter dem Haus durch das Turmgerippe heulte. Dann zuckte ich zusammen und schaute kurz vom Bildschirm auf. Wenn wir jetzt in Kansas wären, dachte ich damals, könnten das die Vorboten eines furchtbaren Wirbelsturm sein. Aber wir waren nicht in Kansas, und was der Wind uns da hereinwehte, das war schlimmer als Hexen oder geflügelte Affen. Denn heute war der Tag von Franks Ankunft in Amaurot.

E
s war jetzt nach vier, aber ich lag immer noch im Morgenmantel auf der Chaiselongue und erholte mich bei einem alten Schwarzweißfilm mit Mary Astor, die eine ganze Kollektion Hüte vorführte. Am Abend zuvor war ich mit Pongo McGurks aus gewesen und hatte es wohl ein bisschen übertrieben. Jedenfalls war ich mit rasenden Kopfschmerzen und in einem Sarong, der nicht meiner war, auf dem Billardtisch aufgewacht. Inzwischen fühlte ich mich schon wieder besser. Tatsächlich fühlte ich mich, als ich die heilkräftige Spezial-Consommé löffelte, die Mrs P für mich gemacht hatte, schon wieder ganz im Reinen mit der Welt. Ich dachte gerade, dass niemand einen Hut so trug wie Mary Astor, als ich ihn beziehungsweise es zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Es war eine große, entfernt menschlich aussehende Gestalt, die sich hinter dem Glasfries zur Halle bewegte. Sie ähnelte keiner der Gestalten, die von Rechts wegen dort sein konnten - weder der schlanken Figur Bels noch der gedrungenen, einem Trapez gleichenden Dienstbotenfigur von Mrs P. Die Gestalt sah massig und auf groteske Weise aufgebläht aus, wie einer von diesen Ikea-Kleiderschränken zum Selberaufbauen, die ich in der Fernsehwerbung gesehen hatte. Ich hievte mich auf die Ellbogen und rief: »Wer ist da?«

K
eine Antwort; plötzlich war die Gestalt verschwunden. Leise seufzend stellte ich meine Consommé ab. Ich bin nicht so eitel, mich für generell heldenhafter zu halten als meinen nächsten Nachbarn, aber das Heim eines Mannes ist seine Burg, und wenn sich schwedisches Mobiliar darin herumtreibt, muss er geeignete Maßnahmen ergreifen. Ich band den Gürtel meines Morgenmantels zu, nahm den Schürhaken und ging langsam zur Tür. Die Halle war leer. Ich hielt eine Hand ans Ohr, hörte aber nur das Geräusch des Hauses selbst, das wie ein endloses Atmen zwischen den hohen Decken und hölzernen Dielen widerhallte.
Fast schon glaubte ich, mir alles nur eingebildet zu haben. Doch dann fiel mir dunkel ein, dass erst kürzlich jemand von einer Einbruchsserie erzählt hatte, und ich setzte meinen Weg durch die Halle fort - nur um sicherzugehen. Es gab jede Menge Nischen, in denen sich Halunken verstecken konnten. Den Schürhaken einsatzbereit für den Fall, dass er aus dem Hinterhalt zuschlug, kontrollierte ich die Bibliothek und das Musikzimmer. Langsam drehte ich den Türknauf, stieß dann ruckartig die Tür auf und fand - nichts. Niemand lauerte hinter Brancûsis Janus, niemand kauerte unter dem wuchernden Weihnachtsstern meiner Mutter. Einer Eingebung folgend probierte ich die Flügeltür zum Ballsaal. Sie war verschlossen, natürlich, sie war immer verschlossen.
Erleichtert ging ich Richtung Küche, um auch dort noch einen flüchtigen Blick hineinzuwerfen und mich gleichzeitig nach etwas Gebäck oder Ähnlichem als Nachtisch für meine Consommé umzusehen, als ich hinter mir ein Geräusch hörte. Ich wirbelte herum, gerade als die Tür zur Garderobe aufgerissen wurde. Und da war sie, die grässliche Gestalt, mit tapsigen Schritten kam sie auf mich zu. Ohne das angenehm Trennende der Milchglasscheibe war der Anblick noch schauerlicher. Mein Mut verließ mich, der Arm samt Schürhaken erstarrte mitten im SchlagÉ
»Charles!«, kreischte meine Schwester, die plötzlich wie ein Geist neben dem Ding aufgetaucht war.
»Hooo«, knurrte das Ding, dann hatte ich meine Sinne wieder beisammen und verpasste ihm einen kräftigen Schlag auf die Schläfe. Als es dumpf auf dem Boden aufschlug, war aus dem Zimmer nebenan deutlich das Klirren der Porzellansammlung meiner Mutter zu hören.
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Draußen heulte der Wind.
»Herrgott, Charles, was hast du getan?«, sagte Bel und beugte sich besorgt über die gefällte Bestie.
»Mach dir keine Sorgen, er atmet noch«, beruhigte ich sie. »Was sollÕs, er hat nur bekommen, was er verdient. Einfach so in ein fremdes Haus einzubrechen. Sei froh, dass du nicht allein hier warst, Bel, schau dir diesen Frankenstein doch an.«
»Charles«, stöhnte sie. »Das ist keinÉ«
»Und ob es einer ist, ich wünschte, du hättest das nicht mit ansehen müssen. Aber es ist nun mal eine Tatsache, dass wir in einer Welt leben, dieÉ«
»Halt den Mund, du Idiot. Das ist kein Frankenstein, das ist Frank - ein Freund, wir gehen heute Abend zusammen aus.« Sie kniete sich neben das Wesen und betastete dessen Stirn. »Wenn er noch mal zu Bewusstsein kommt.«
»Oh«, sagte ich. Durch die Tür sah ich Mary Astor. Sie trug einen Männerhut und tanzte einen gewagten Charleston. Nicht zum ersten oder letzten Mal wünschte ich mir, dass ich in den Bildschirm springen und mittun könnte.
»Ist das alles, was dir dazu einfällt, ÝOh.Ü?« Sie richtete sich halb auf, um mich besser beschimpfen zu können. »Weil er mich von diesem dämlichen Vorsprechen nach Hause fahren wollte, hat sich der arme Kerl extra den Nachmittag freigenommen, und noch bevor ich ihm einen Drink anbieten kann, fällst du über ihn her.«
»Ich hab gedacht, er ist ein Einbrecher«, wandte ich ein.
»Ein Einbrecher«, wiederholte Bel.
»Na ja«, sagte ich. »Da war doch diese Einbruchsserie, undÉ« Es war unmöglich, ihr das auf die nette Art beizubringen. »Und er sieht ja nun wirklich wie ein Einbrecher aus, Bel, das musst du zugeben. Ich meine, schau ihn doch an.«

W
ir wandten unsere Aufmerksamkeit der Gestalt auf dem Boden zu. Er trug eine Jeansjacke, ein schmuddeliges weißes Hemd und unscheinbare braune Schuhe. Er war sehr groß und auf eine irgendwie unpassende Art klobig. Sein Kopf war allerdings faszinierend. Er ähnelte dem ersten Versuch eines Töpferlehrlings für eine Suppenterrine. Er sah aus wie eine matschige Knolle, mit einer einzigen vorstehenden Augenbraue, einem Stoppelbart und zwei schon lückenhaften Zahnreihen. Die Ohren als asymmetrisch zu beschreiben, täte allem Asymmetrischen unrecht.
»Unrecht? Was meinst du?«, rief Bel, als ich ihr meinen Eindruck schilderte. »Du schlägst jemandem den Schädel ein, und dir fällt nichts Besseres ein, als seine Ohren zu bekritteln. Tickst du noch richtig?«
»WennÕs nur die Ohren wären«, sagte ich. »Stell dir bloß vor, was Mutter sagen würde, wenn sie das da sehen würde.«
»Ich kann mir sehr gut vorstellen, was sie sagen würde«, sagte Bel säuerlich. »Sie würde sagen, dass ihr ein bisschen unwohl sei, und ob ihr nicht jemand einen Gin einschenken könnte.«
»Mach keine Witze über Mutters schwache Nerven«, wies ich sie zurecht. Aber sie war schon unterwegs zur Küche und kam kurz darauf mit einem Geschirrtuch voller Eiswürfel zurück. Das Wesen kam gerade wieder zu sich.
»Mann o Mann«, sagte es. »Alles in Ordnung?«, fragte Bel und zog es mit beiden Händen in eine sitzende Position.
»Was ist passiert?«, sagte das Wesen. »Ich hab die Küche gesucht. Und dann war ich plötzlich in diesem Zimmer, alles voll Mäntel, und dann, weiß nicht, als wenn mich einer geschlagen hätteÉ«
»Du hattest einen kleinen Unfall«, sagte Bel und starrte mich eisig an.
»Na ja, jetzt ist es ja überstanden«, sagte ich. »Wie wärÕs mit einem Drink? Ein Cognac vielleicht? Oder kann ich dich zu einem Gimlet überreden? Ich wollte mir gerade selbstÉ«
»Eine Tasse Tee wäre wunderbar«, sagte der Eindringling. Er rappelte sich auf, hielt sich an Bels Schulter fest und schleppte sich über das Parkett in den Salon. Dort sank er auf meinem Chaiselongueplatz nieder.
»Tee. Natürlich«, sagte ich gnädig, während er die Fernbedienung nahm und Mary Astors lächelnde Augen von einer auseinander gezogenen, im Kreis herumrennenden Hundemeute ersetzt wurden.
Niemand reagierte, als ich die Dienstbotenglocke läutete. Ich stand in der Küche und starrte hilflos die Küchenschränke an, als Bel hereinkam. »Wo hat Mrs P den Tee?«, fragte ich. Bel riss Millimeter vor meiner Nase eine Schranktür auf, und ich blickte auf eine Reihe glasierter Tontöpfe. »Ob er Earl Grey mag? Ist eigentlich ein bisschen zu früh dafür, oder?«
Bel stöhnte auf, nahm eine Schachtel mit Verbandsmaterial aus einer Schublade und ging wieder.

V
ielleicht mag er lieber Lapsang Souchong, überlegte ich, folgte dann aber doch meiner ersten Eingebung.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.02.2006