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Das Märchen von Gerechtigkeit

Alexander Zemlinskys Oper »Der Kreidekreis« am Theater Bielefeld

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Alexander Zemlinskys »Kreidekreis« gehört nicht gerade zum vielgespielten Repertoire der Opernhäuser. In Bielefeld steht der Dreiakter nun 73 Jahre nach seiner Uraufführung erstmals auf dem Spielplan. Warum erst jetzt?, fragt sich unwillkürlich, wer erlebt, wie sich Lehrstück und Märchendrama unter aufregender Musik zu einem spannungsvollen Singspiel formieren.

In Zemlinskys Spätwerk, das auf einer altchinesischen Sage beruht, später in der Umdichtung durch Klabund zum Kultstück avanciert und bei Bert Brecht als »Kaukasischer Kreidekreis« wiederkehrt, herrscht eine geradezu luxuriöse atmosphärische Dichte, nimmt die Musik doch Bezug auf alles, was die 30er Jahre im Angebot hatten: den Spätstil Gustav Mahlers, die schillernde Ornamentik des frühen Schönberg, Kurt Weills »Dreigroschen«-Songstil und dazu noch chinesisches Instrumentalkolorit.
All dies ist bei Generalmusikdirektor Peter Kuhn in besten Händen. Fein differenziert, rhythmisch akzentuiert bis hin zu klangrauschsüchtig lässt Kuhn die kleinteiligen Passagen in vorzüglichem Einvernehmen mit den Bielefelder Philharmonikern aufspielen, die Bühne stets im Blick. Seine lustvoll bewegende Deutung bleibt nie an der Oberfläche, sondern lässt Farben und Stimmungen vielschichtig schillern und changieren. Und das ist gut so, kommt der Musik doch eine wichtige charakterisierende Rolle zu, die weit über die eindimensionale Figurenzeichnung von gut und böse hinausweist.
Aber auch Gregor Horres (Regie) gelingt es in genialer Übereinkunft mit Friederike Hölscher (Bühne) und Yvonne Forster (Kostüme), den holzschnittartig gezeichneten Figuren Tiefe zu verleihen und darüber hinaus mit heiterem Ernst zu unterhalten, ohne dabei den Lehrstückcharakter aus den Augen zu verlieren.
Reißbrettartig und vor asketischer Kulisse entwickelt Horres die Handlung auf abgeschrägtem Doppelboden als Spiel im Spiel. Die Regeln sind vorgegeben. Es gibt die Guten wie die Bösen, Täter und Opfer, Arme und Reiche. Doch das antithetische Märchenbild will nicht recht aufgehen. In der Überzeichnung seiner eigenen Charakteristika geraten seine Fundamente ins Wanken.
Nach glücklichem, parabolischem Ausgang bleiben somit Fragen zurück: Hat die junge Haitang, die von ihrer Mutter an ein Bordell verkauft wird, in einen Strudel aus Macht gerät, ihres Kindes beraubt und zum Tode verurteilt wird, ihre Rettung ihrer Wahrhaftigkeit zu verdanken oder doch nur der Willkür eines infantilen Märchenkönigs? Ist nicht auch Yü.Pie Unrecht geschehen? Gibt es überhaupt Gerechtigkeit, fragt Horres in einer Inszenierung, die bei aller Sozialkritik sehr kurzweilig, temporeich und ohne erhobenen Zeigefinger daher kommt.
Denn Horres wirft mit Humor und Slapstick einen liebevollen Blick auf seine Figuren: Da darf sich der skrupellose Kuppler Tong lasziv als eine Kreuzung aus Schwuchtel und Henker outen, während Prinz Pao frisch aus Grimms Märchen zugereist scheint. Gutes wird auf diese Weise infrage gestellt, Böses bekommt menschliche Züge. Das Schwarz-Weiß erhält Zwischentöne. Stück für Stück aber entsteht ein Panoptikum märchenhafter Gestalten, die von Yvonne Forster lust- und glanzvoll ausgestattet wurden: Haute Couture mit dezent chinesischem Einschlag als unaufdringliche Reminiszenz an die Herkunft der Stoffvorlage.
Gespielt und gesungen wird durchgehend auf hohem Niveau, wobei Sabine Paßow in der Hauptrolle der Haitang das ganze Ausdrucksregister von der Feinziselierung bis zum raumgreifend wogenden Klang durchmisst. Nicht minder bewundernswert ist Annina Papazian, die als Yü-Pei Lust und Leidenschaft in kraftvoll schillernden Farben aufbietet. Brillant und voluminös auch die Männerstimmen: Meik Schwalm (Tschang-Ling), Luca Martin (Pao) Michael Bachtadze (Ma) und Alexander Franzen (Tschao).
Unterm Strich ein attraktives Stück und eine echte Bereicherung des Spielplanes. Vom Premierenpublikum gab's dafür lang anhaltenden, anerkennenden Beifall.

Artikel vom 20.02.2006