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»Neugeborene Zeitung, hilf tapfer mit«
Zuversicht, geschöpft aus dem Nichts

Die erste Ausgabe am 15. März 1946 war ein mutiger Start unter schwierigsten Bedingungen

Von Reinhard Brockmann
»Zusätzlich 7 Millionen Tonnen Getreide« - die wichtigste Überschrift der WESTFALEN-ZEITUNG am 15. März 1946 war eine Zwischenzeile. Das von 1949 an als WESTFALEN-BLATT von Carl-Wilhelm Busse geführte Blatt ist heute vor 60 Jahren erstmals erschienen. Inzwischen wird die Regionalzeitung gelenkt von Michael Best und Harald Busse.

Die Menschen hatten 1946 Hunger. Die Hauptschlagzeile »Europäische Ernährungskonferenz am 3. April« war alles andere als langweilig: Worte so nüchtern, wie die Mägen leer waren. Eine solche Ankündigung vermittelte Mut, das ließ hoffen.
Es fehlte an allem: an Nahrung für Körper und Geist. Allein die Neuerscheinung einer Zeitung machte den Neuanfang greifbar. Man hielt in Händen und überflog mit wissbegierigem Blick das wenige, das es an echten Nachrichten gab. Da war schon das kleine Impressum auf Seite 2 großer Gesprächsstoff:
»Veröffentlicht unter Zulassung Nr. 13 der Militärregierung. Lizenzträger: Alfred Hausknecht und Dr. habil. Diether Lauenstein. Chefredaktion: Alfred Hausknecht.
Verlag: Westfalen-Zeitung Bielefeld, Bielefeld, Postschließfach 1178. Druck: Zeitungsverlag für Westfalen GmbH, Bielefeld, Auflage: 102.000.«
Sechs Seiten, gerade eineinhalb Bögen Papier, fanden dankbare Abnehmer im Verbreitungsgebiet mit den Teilauflagen Bielefeld Stadt und Land, Halle, Gütersloh-Wiedenbrück, Paderborn-Büren, Höxter-Warburg, Herford und Minden-Lübbecke.
Wer den Krieg überlebt hatte, der hatte sich jegliches Hurra-Gefühl gründlich abgewöhnt. Das deutsche Desaster hat die Menschen Vorsicht gelehrt. Die Leser sowieso, selbst die Schreiber der Erstausgabe gehen nur behutsam auf das Neue ein.
»Man hat mich aufgefordert, für die erste Nummer dieser Zeitung einen kurzen Aufsatz zu schreiben,« bekennt Hermann Höpker-Aschoff, der noch zu Herfords wichtigstem Nachkriegspolitiker aufsteigen sollte. Auf Seite 3 der Erstausgabe schreibt er weiter: »Ich gehe von der Voraussetzung aus, dass diese Zeitung nicht das Sprachrohr einer bestimmten Partei ist, dass also in ihr alle Anhänger derjenigen Gruppen, die rechts von der Sozialdemokratie stehen, zu Worte kommen. Auf diesem Flügel ist der Aufmarsch noch nicht vollzogen, alles ist in Gärung.«
Auch Johannes Gronowski, »Oberpräsident von Westfalen a.D.«, formuliert Ungewissheit: »Niemand kennt die Zukunft, der wir entgegen- gehen. Wir kennen nicht die Grenzen unseres künftigen Vaterlandes; wir wissen nicht, welche Opfer noch von uns verlangt werden.«
Es gab noch kein NRW und keine Bundesregierung, aber die Furcht vor neuen Reparationslasten war allgegenwärtig. Gronowski zitiert einen Bekannten, der 25 Großangriffe überlebte, einer furchtbarer als der andere: »Aber sobald die Gefahr vorbei war und wir aus den Kellerlöchern heraus durften, bildete sich sofort eine Aufbaukolonne.« Gronowski kann es nicht besser sagen, kennt nur den Mut der Verzweifelten und gießt sein Sehnen in den Stil der Zeit. »An der Klippe der Mutlosigkeit darf unser Lebensschiff nicht scheitern«, schreibt er und endet: »Und du, neugeborene Westfalen-Zeitung, hilf tapfer mit.«
»Der Leser wird einen neuen Typ der politischen Zeitung finden«, verspricht Chefredakteur Alfred Hausknecht unter »Aufgabe und Verpflichtung«. Der Typ der Parteizeitung aus Nazi- und früherer Zeit werde der Vergangenheit angehören, gibt er seinen Lesern schriftlich. »Wahrhaftigkeit und Ritterlichkeit im Streit der Meinungen« werden angekündigt. Wie zum Beweis der Vielfalt findet sich unter anderem ein Bericht von der ersten Parteikonferenz des Zentrums in Essen, wo Johannes Brockmann im Vorstand das Hochstift vertrat. Der Paderborner, streng katholischer Gegner Adenauers, sollte zwei Jahre später mit dem FDP-Mann Höpker-Aschoff einer der 96 Väter des Grundgesetzes werden.
Worte und Meldungen der Erstausgabe vom 15. März 1946 sind durchmischt mit Nachrichten von der Versorgungsfront. »Erster deutscher Wirtschaftsrat in Minden«, heißt es auf der zweiten Seite. Vielmehr, als dass dort ein hoher britischer Offizier den Deutschen etwas Verantwortung bei der Verteilung des Mangels überlässt, erfährt man nicht. Dennoch ist die Botschaft klar: Es geht voran. Paderborn, Minden, Bielefeld: Überall lagen noch die Schienen der Trümmerloren, waren die Straßen notdürftig freigeräumt und ragten ausgebrannte Ruinen in den Himmel.
Die im Jahr 2000 verstorbene WESTFALEN-BLATT-Redakteurin Waltraut Sax-Demuth fand in Walter Seidel, den späteren Kassenleiter des Verlages, einen Augenzeugen der Stunde Null. 1946 kam Seidel mit 17 aus Schlesien nach Bielefeld. Er half die Zeitung zu verteilen, fasste mit an und wurde zum Verlagskaufmann ausgebildet. Die Knappheit war die Stunde der Tüchtigen.
Hans Bertram war seit dem 14. März 1946 dabei, der Tag, an dem die Erstausgabe gedruckt wurde. Der gelernte Schriftsetzer machte die Zeitung zu seinem Lebensinhalt. Bis zum Tod 1971 blieb er dem Hause treu, viele Jahre davon als technischer Leiter.
Die Verwaltung fand ihre erste Adresse in einer Privatwohnung am Oberntorwall, die Redaktion saß bei Chefredakteur Hausknecht in der heutigen August-Schröder-Straße. Geschäftsstelle war die ehemalige Fleischerei Generotzky. Sinnträchtiger hätte es die Not nicht diktieren können. Fleisch gab es allenfalls sonntags, die Zeitung schon zweimal pro Woche: dienstags und freitags.
Ein doppelte Weichenstellung erfolgte 1949: Der Titel musste geändert werden in »WESTFALEN-BLATT«, und der junge Herforder Verleger Carl-Wilhelm Busse schickte sich an, die Zeitung so stabil und fest zu positionieren, dass sie bis heute, über seinen Tod im Dezember 2001 hinaus, wirtschaftlichen Bestand und politisches Profil hat.
Die WESTFALEN-ZEITUNG war eine von knapp 150 Lizenzzeitungen aus der frühen Besatzungszeit. Mit dem Rückgewinn eigener Staatlichkeit 1949 durften die alten Heimatzeitungen, in der Nazi-Zeit entweder unter NS-Kuratel gestellt oder verboten, wieder erscheinen.
Diese Umstellung, so sollte sich 1990/91 noch einmal erweisen, zeigte die Treue der deutschen Leserschaft gegenüber ihren Traditionstiteln. Selbst politische Fehler verzieh das Publikum recht bald. Für die Heutigen ist das am Erfolg der »Leipziger Volkszeitung« oder der (Ost-)»Berliner Zeitung« am ehesten nachzuvollziehen.
Das Wiedererscheinen der alten »Westfälischen Zeitung« zwang 1949 zum Namenswechsel. Aus WESTFALEN-ZEITUNG wurde WESTFALEN-BLATT. Aus Herford kommend trat Carl-Wilhelm Busse als Herausgeber des gleichfalls soeben wieder zugelassenen »HERFORDER KREISBLATTES« auf den Plan.
Das von Vater Leopold Busse übernommene Leib- und Magenblatt der Herforder war gerade erst wieder gestartet, da griff Busse nach der ob neuer/alter Konkurrenz geschwächten Bielefelder Gruppe. Das bewies unternehmerischen Mut und Chuzpe, wie sie in heutigen Tagen selten geworden sind.
Der Schachzug war so genial wie riskant: Busse hatte sein Herforder Blatt vom Druck der Lizenz-Konkurrenz entlastet und zugleich den Fuß in ganz Ostwestfalen in der Tür. So etwas kann im Desaster enden, aber nicht bei Carl-Wilhelm Busse.
Der Vollblut-Verleger war beseelt von mehr als nur von wirtschaftlichem Sturm und Drang. Seine journalistische wie verlegerische Schule waren die Vorkriegs- und Nachkriegszeit. Seine politisch klare Grundhaltung und auch sein Mut im Umgang mit den Nazis muss ihn Beharrlichkeit und Entscheidungskraft gelehrt haben.
Zeit seines Lebens sprach er nur selten darüber, aber eine Ausstellung im Staatsarchiv Detmold im März 2005 hat Details von Busses Unbotmäßigkeit den Nationalsozialisten gegenüber öffentlich gemacht. Noch 1936, drei Jahre nach der Machtergreifung und der radikalen Gleichschaltung, ordnete Busse an, dass Meldungen über jüdische Personen im »HERFORDER KREISBLATT« angemessen zu berücksichtigen seien. Einen verantwortlichen Redakteur mit den allerbesten Beziehungen zur NSDAP setzte er vor die Tür, wohl wissend um die möglichen Konsequenzen. Außerdem wurde drangsalierten jüdischen Kaufleuten in der Stadt bedeutet, dass diese Zeitung auch künftig deren Anzeigen annahm und genauso veröffentliche wie jede andere Annonce auch.
Es kam zu zwei Verfahren. Busse machte die Vorgehensweisen der Nazi-Zensur vor, wie er nur hoffen konnte, noch unabhängigen Richtern deutlich. Es gab sogenannte Pflichtmeldungen aus dem Reichspropaganda-Ministerium - etwa über angebliche Rassenschändungen von in Ungnade gefallenen Schauspielern. Deutsche Zeitungen hatten sie unverändert zu drucken. Nicht in Herford. Busse, der es ablehnte in die NSDAP einzutreten, duldete solches nicht - und kam mit einem blauen Auge davon.
Ein Standesgericht der deutschen Presse hielt dem 22-Jährigen dessen Jugend zugute, verwarnte ihn, sprach ihn aber nicht frei.
Mit dem Reichsschriftleitergesetz von 1933 hatte die zentrale Lenkung der Presse begonnen. Journalisten wurden zu Vollstreckern des politischen Willens. »Redakteure« gab es nicht mehr, »Schriftleiter« wurde nur, wer den Nazis passte. Busse gehörte nicht dazu, die notwendige Eintragung in die Schriftleiterrolle wurde ihm verweigert und der Ausschluss aus der Reichspressekammer angedroht.
Es folgte für den Herforder Betrieb zunächst der Entzug von Aufträgen wie dem Druck Amtlicher Bekanntmachungen, dann gab es weniger Papier als für andere Verlage, Pfingsten 1941 wurden die Maschinen von Amts wegen in eine NS-treue Druckerei nach Minden geschafft.
Solcherart gestählt stellte sich Busse nach dem Krieg den Besatzungsbehörden, die ihm eine Lizenz noch verweigerten, aber nur wenig von den Maschinen in Minden wussten.
Lastwagen, Benzin, alles war knapp, dennoch schaffte der junge Busse seine Rotation in einer Nacht- und Nebel-Aktion nach Herford zurück. Das HERFORDER KREISBLATT, heute mit 160 Jahren einer der ältesten Titel in der Zeitungs-Gruppe, konnte am 27. Oktober 1949 wieder erscheinen.
Irgendwie reichte trotz Währungsreform und Kriegsfolge-Lasten das Kapital, um Alfred Hausknecht in Bielefeld dessen 50 Prozent-Anteil an der Lizenz-Zeitung abzukaufen. Die »WESTFALEN-BLATT Vereinigte Zeitungsverlage GmbH« nahm Gestalt an. Als alleiniger Geschäftsführer hatte Busse nun die Fäden in der Hand - und entbehrungsreiche Jahre mit einer wachsenden und mitziehenden Belegschaft vor sich.
»Man muss diese verlegerische Entscheidung vor dem Hintergrund jener frühen Nachkriegsjahre sehen«, erläutert Chronistin Sax-Demuth. »Die Generation von heute kann sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie intensiv diese Hoffnung auf ein neues Leben war und zu welchen Leistungen sie allem Elend zum Trotz befähigte.«

Artikel vom 15.03.2006