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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Das zweite Buch der Bibel heißt auch »Exodus« - »Auszug«. Denn es schildert die Befreiung der Israeliten und ihren Auszug aus Ägypten. Hauptperson darin ist Mose. Er soll den Pharao auffordern, sein Volk in die Freiheit zu entlassen, und es durch die Wüste in das Land der Verheißung führen.
Daß diese Menschen überhaupt in Ägypten leben und dort Zwangsarbeiten verrichten müssen, bringt die Erzählung in Verbindung mit Joseph (WB vom 04.02.2006), der seine Familie dorthin nachkommen ließ, wo sie, über Generationen hinweg, zu einer beträchtlichen Minderheit heranwächst. Einerseits werden sie als billige Arbeitskräfte beim Städtebau gebraucht; andererseits aber aufgrund ihrer ständig wachsenden Zahl auch als Bedrohung empfunden, als potentieller Feind im eigenen Land.
Um diese Gefahr zu bannen, ergeht eines Tages ein grausiger Befehl: Alle neugeborenen männlichen Nachkommen sollen in den Nil geworfen werden und dort ertrinken. Unter ihnen ist aber ein Knabe, den seine Mutter zunächst drei Monate lang verstecken kann. Dann aber sieht sie kein anderes Mittel mehr, als ihr Kind in einem Schilfkörbchen am Ufer des Flusses abzusetzen - in der Hoffnung, daß doch vielleicht noch ein Wunder geschieht. Und in der Tat, eine ägyptische Prinzessin findet das Baby, hat Mitleid mit ihm, läßt ihn von seiner Mutter stillen und nimmt ihn an Kindesstatt an.
In dieser Erzählung geht es nicht um objektive und wissenschaftlich fundierte Geschichtsschreibung. Sie weiß vielmehr davon zu reden, wie Gott fast immer - auch im Leben des einzelnen - sein Werk beginnt: Es fängt im Verborgenen an, ist unscheinbar und erscheint der menschlichen Wahrnehmung nicht selten wie das krasse Gegenteil von göttlichem Handeln. Mose ist als Säugling selber ein Todeskandidat und auf Rettung angewiesen. Für unzählige andere Kinder aber gibt es keine Rettung; sie kommen in den Fluten des Nils um.
Diese dunkle Folie, vor der sich die Kindheit des Mose abhebt, ist menschlichem Begreifen unzugänglich und wird es bleiben. Niemand vermag darin einen Sinn zu erkennen. Daher gibt es nur zweierlei: entweder Gott zu vertrauen, daß er sogar solcher Unbegreiflichkeit ihren Sinn gegeben hat, oder den Glauben an ihn aufzugeben und die ganze Welt letztlich für absurdes Theater zu halten.
In einer weiteren Szene wird deutlich, daß Mose von sich aus eigentlich überhaupt nicht für eine Führungsrolle taugt. Als er, nun schon erwachsen, Zeuge wird, wie ein Ägypter einen Israeliten mißhandelt, da packt ihn die kalte Wut, und als er sich unbeobachtet glaubt, erschlägt er den Peiniger und verbuddelt seinen Leichnam. Er hat zwar einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, aber er ist seinem eigenen Jähzorn nicht gewachsen und wird darüber zum Totschläger. Wie aber kann einer zur Leitfigur für andere werden, der seiner selbst so wenig Herr ist, daß er sich zu einem Verbrechen hinreißen läßt?
Doch offensichtlich sucht Gott diejenigen, die in seinem Plan eine besondere Aufgabe übernehmen sollen, nach anderen Kriterien aus, als sie unter Menschen üblich sind. Wer an sich selbst Schiffbruch erlitten hat, ist für ihn nicht für alle Zeiten untauglich und erledigt. Wer an seine Grenzen gestoßen ist und den Gefährdungen der eigenen Person erlag, kann daran auch wachsen, reifen und dadurch menschlicher werden. Es wird ihn wohl auch dauerhaft vor dem Fanatismus bewahren, der geradezu tödliche Formen annimmt, wenn er meint, für eine gerechte Sache zu stehen und die Gerechtigkeit auf seiner Seite zu haben.
Bereits am nächsten Tag wird Mose mit dieser, seiner eigenen Problematik konfrontiert: Als zwei Israeliten sich streiten, will er als Schlichter eingreifen und bekommt zu hören, daß er, der doch ein Menschenleben auf dem Gewissen habe, sich doch lieber still verhalten möchte. Außerdem sei seine Untat bekannt geworden und die Polizei hinter ihm her. Damit beginnt für Mose eine Flucht, und vor ihm liegt ein langer Weg, auf dem er viel Zeit hat, über sich selbst nachzudenken (nachzulesen in: 2. Mose/ Exodus 1 u. 2).

Artikel vom 18.02.2006