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Gute Ernte: Wohlbefinden wächst im Blumengarten

Körper und Seele tanken Kraft zwischen Rabatte und Rasen

Von Ellen Grundmann
Bielefeld (WB). Betörende Düfte umschwirren das Näschen. Die einzige, beinahe meditative Beschäftigung besteht darin, den summenden Bienen zuzuschauen, wie sie von Blüte zu Blüte fliegen, eine farbenfroher als die andere. Wann wird's mal wieder richtig Sommer, möchte man beim Blick aus dem Fenster mit Rudi Carell im Duett singen. Denn wenn es endlich grünt und blüht, lockt der Garten mit Erholung der Güteklasse A.

Am Tor zu diesem kleinen Paradies heißt es für Stress und Sorgen unübersehbar »Zutritt verboten!«. Die Bedeutung des Gartens hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt. Aus dem Nutzgarten wird mehr und mehr die Wohlfühl-Oase, ein Rückzugsort, der Ruhe und Entspannung verspricht - es sei denn, der liebe Nachbar verrichtet sämtliche Gartenarbeiten unter motorisiertem GetöseÉ
Apropos, Gartenarbeit. Selbst dabei lässt sich entspannen. Mehr noch als das - Gartenarbeit kann sogar heilsam sein. Hier kommt die Gartentherapie ins Spiel. Eine anerkannte Therapieform gibt es in Deutschland nicht, bedauert Andreas Niepel, Gärtner und Gartentherapeut an der Klinik Holthausen. Im Gegensatz zu den USA und England. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Therapiegärten gibt, im Gegenteil, die Nachfrage steigt. Vor zwei Jahren fand in Bad Lippspringe erstmals der Kongress »Garten & Therapie« statt, als dessen Träger der Zentralverband Gartenbau, der deutsche Verband der Ergotherapeuten, der Taubblindendienst und die Arbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen in Deutschland zu nennen sind.
Andreas Niepel bevorzugt den Ausdruck »Therapeutische Gärten«, hinter denen mehr steckt als der Übungsgarten voller Hochbeete. »Therapeutische Gärten dienen als Ort bei der Wiederherstellung, der Entwicklung und Verbesserung, der Erhaltung oder Kompensation von gestörten motorischen, sensorischen, psychischen und kognitiven Funktionen. Dazu gehören demnach auch Außengehschulen, die bereits erwähnten Übungsgärten, wie auch Blindengärten oder geschlossene Gärten für Menschen mit demenziellen Erkrankungen«, so der Experte, »Therapeutische Gärten beziehen sich auf die Außenanlagen in der Psychatrie, an Akutkrankenhäusern bis in den Privatbereich hinein.«
Im 16. Jahrhundert erkannte der französische Arzt Pinel die positiven Auswirkungen von Beschäftigung auf psychisch kranke Menschen. Benjamin Rush stellte 1798 die gärtnerische und landwirtschaftliche Tätigkeit als besonders geeignet heraus und so entstand 1817 am »Friends Hospital« in Philadelphia ein erstes Gewächshaus. Eine besondere Bewertung der Arbeitstherapie geht in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf Hermann Simon, Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Gütersloh, zurück. »Sich eben nicht nur auf die Erkrankung zu konzentrieren, sondern gleichermaßen gezielt auf den verbliebenen gesunden Teil des Menschen zu schauen«, bringt Niepel die heute noch gültige Kernaussage auf den Punkt.
Aus der Arbeits- und Beschäftigungstherapie entstand 1977 die Ergotherapie. Die Vorteile der Gartentherapie sieht Andreas Niepel zum einen in der Vielfalt der Tätigkeiten und in der Tatsache, dass der »Werkstoff« lebt und Aufmerksamkeit, Pflege und Geduld erfordert. Geistig-kognitive Leistungen lassen sich so trainieren.
Nicht unwichtig: Bei der Gartenarbeit werden die Sinne angesprochen. Riechen, sehen, hören, fühlen und schmecken - das »Erlebnis Garten« gibt es gratis und damit kehrt ein Stück Lebensfreude zurück. Das hat eine Untersuchung an 70 Schlaganfallpatienten gezeigt. »Gerade nach einer schweren Krankheit ist es wichtig zu sehen, wie alles wächst und gedeiht, und zu erfahren, dass das Leben trotz allem weitergeht«, sagt Brigitte Oberauer, Ergotherapeutin und Initiatorin der Studie.

Artikel vom 03.03.2006