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Verdrehter Volksmund

»Es gibt Tage, da verliert man, und es gibt Tage, da gewinnen die anderen.«

Leitartikel
Kirchhofs Ideen - topaktuell

Irgendetwas
stimmt
hier nicht


Von Rolf Dressler
»Irgendetwas stimmt hier nicht!« So sinnfällig betitelt ein ziemlich bekannter deutscher Buchverlag seinen Mitmach-Aufruf für ein ungewöhnlich pfiffiges Gewinnspiel. Konkret: Kiepenheuer & Witsch sucht die besten verdrehten Redensarten und Sprichwörter.
Wie etwa diese hier: Haben Sie auch schon mal mit Spatzen auf Kanonen geschossen? Oder hat ein Freund Ihnen geraten, nichts über den Zaun zu brechen.
Nun gut, viele solcher hübschen Kunststückchen kennt man ja ohnehin aus dem richtigen Leben. Da bringt ein zirkusreifer Volksvertreter in kühnem Rednerschwung Finanzierungsprobleme »aufs Trapez« statt aufs Tapet. Von einem anderen heißt es, er habe »immer einen Triumph im Ärmel«, während offenbar schlicht ein Trumpf gemeint ist. Und wieder anderen wird zugeschrieben, sie seien »echte Koniferen« und nicht etwa Koryphäen.
Zu letzteren wirklichen Denker- größen darf sich - ganz ohne Wit- zelei - zweifellos der Verfas- sungsrichter a. D. Paul Kirchhof zählen. Denn so holterdipolter ihm die hypernervös gewordene CDU kurz vor dem Wahlkampf-Schluss im September 2005 den Laufpass gab, so wegweisend richtig bleiben seine Vorschläge für eine Steuer- und Abgabenreform, die diese Bezeichnung auch verdiente, würde sie je Wirklichkeit auf dem schwerfälligen Riesentanker Deutschland.
Nach wie vor nämlich drückt sich die herrschende Politik, also auch die schwarz-rote große Koalition, um wirkliche Schlüsselfragen herum. Zum Beispiel um die Ungerechtigkeit, dass Körperschaften, also auch Unternehmen generell mit nur 25 Prozent besteuert werden, ob sie nun 100 000 oder eine Million oder eine Milliarde Euro Gewinne einfahren, wohingegen der Mitbewerber, der seine Erträge als Einzelperson oder als Personengesellschaft erwirtschaftet, eine progressive Einkommensteuer bis zu 42 Prozent berappen muss.
Doch diese und andere gewichtige Systemfehler wird man schwerlich auf Dauer so volksverdummend beiseite drücken können, wie es SPD und Grüne in der Anti-Kirchhof-Kampagne 2005 zu Lasten aller Steuerbürger und letztlich des ganzen Landes leider getan haben. Denn bei einem allgemeinen Steuersatz von 25 Prozent auf sämtliche Kapital- und Arbeitseinkommen hätte der Unternehmenschef mit einem Einkommen von einer Million nach Adam Riese 250 000 Euro zu zahlen, während die Sekretärin mit 20 000 Euro zwar rein rechnerisch 5000 Euro Steuern zu entrichten hätte, wegen diverser Freibeträge tatsächlich aber fast gar keine Steuern zu zahlen brauchte.
Fatal genug, dass Kirchhofs grundrichtiger Vorschlag mit der wahrlich mittelalterlich anmutenden Keule »Kopfsteuer« zunächst erst einmal totpolemisiert werden konnte. Ein zweites Mal dürften sich die Leute aber nicht einreden lassen, dass Steuersatz gleichzusetzen sei mit dem real zu zahlenden Steuerbetrag - frei nach dem Schwindler-Motto: Ob Chef oder Sekretärin, bei Kirchhofs 25-Prozent-Tarif-Modell zahlt jeder das Gleiche.
Auch Wahrheit braucht ihre Zeit.

Artikel vom 18.02.2006