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Editorial

Deutschland ist in
Ballbesitz
Von Friedrich-Wilhelm Kröger


Noch 100 Tage bis zur Fußball-Weltmeisterschaft. Da ergeht es uns Zuschauern wie den Hauptdarstellern auf dem Platz wohl auch. Zwischendurch sackt die Spannung sicher noch mal ab, um sich dann allmählich wieder hochzuschaukeln. Die Erwartungen an das Turnier und sein Drumherum sind dabei seit der großen Stunde der WM-Vergabe an Deutschland so gewaltig geworden, dass sie Schwindelgefühle auslösen.
Alle wollen was. Das Land erhofft sich einen spürbaren Aufschwung für die Wirtschaft und möchte bei seinen Gästen aus aller Welt viele Sympathien gewinnen. Die Mannschaft plant nicht nur zum vierten Mal den Weltmeistertitel zu holen, sondern ihn auch im attraktiven Spielstil zu erringen. Und die Fans wollen Spaß haben. Ob im Stadion, zu Hause vor dem Fernseher, in der bevorzugten Eckkneipe oder auf ihrem örtlichen Marktplatz vor einer Großleinwand.
Doch dann gibt es noch diesen bedeutensten Wunsch, der »mit Sicherheit« alles andere in den Schatten stellt: dass nichts passiert, niemand durchknallt und das vierwöchige Fußballfest unbehelligt und friedlich gefeiert werden kann. Das sollte selbstverständlich sein. Ist es aber leider nicht mehr.
Auch hier wird der Gastgeber sein Bestes geben. Manchen sind diese und andere Anstrengungen allerdings nie gut genug, und deswegen kann diese Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland ohne medienwirksames Nörgeln und stetes Tuscheln im Hintergrund offenbar nicht stattfinden.
Die Organisatoren bekamen innerhalb kurzer Zeit ein dreifaches Pleiten-, Pech- und Pannen-Paket untergejubelt. Über die Arenen wurde lamentiert, über die Absage der Eröffnungs-Gala diskutiert, die Gebühren im Kartenverkauf kritisiert. Mittlerweile sind Empörung und Aufregung zwar wieder einer entspannteren Stimmung gewichen, nicht auszuschließen jedoch, dass die eine oder andere neue Schwachstelle eröffnet wird.
Die Zeit nach dem Zuschlag für Deutschland war eben sehr lang. Darum landet immer das eine oder andere auf dem Tisch, über das man mal motzen könnte. Und bis in der Münchener Allianz-Arena endlich der WM-Anstoß erfolgt, dauert es immer noch länger als drei Monate. Aber keine Sorge vor bisweilen ausbrechender Hysterie. Es ist nur der ganz normale Wahnsinn, der sich uns da nähert.
Wer mit diesem epochalen Ereignis jedoch so ganz und gar nichts anzufangen weiß, sollte vielleicht für 31 Tage seine Republikflucht erwägen. Ansonsten könnte er überrollt werden. Vom 9. Juni bis 9. Juli ist Deutschland in Ballbesitz - mit aller Konsequenz.
Ob auch begeisternd gespielt wird, ist eine ganz andere Sache. Die Kernfrage zur Kickerei lautet natürlich: Was haben die Klinsmänner zu bieten? Läuft es so wie beim Confed Cup, werden die Zuschauer zweifellos mehr auf ihre Kosten kommen als Kahn. 4:3, 3:0, 2:2, 2:3, 4:3 - torreicher hätte die Generalprobe im vergangenen Jahr kaum sein können. Wo immer sich die DFB-Auswahl vorstellte, wurde sie für Mut und Übermut umjubelt. Unterhaltsam spielte sie jedes Mal, ratsam war es nicht immer. So sah das auch der Münchener Schlussmann. Er hatte zu viel in seinen Kahn bekommen und riet dringend dazu, beim WM-Ernstfall unbedingt die Reihen zu schließen. Mit fliegenden Fahnen fröhlich in den Untergang zu stürmen, wäre auch dumm. Es geht schon darum, dass die Deutschen bei ihrer Heim-WM möglichst lange dabei bleiben. Gut fürs Geschäft.
Außerdem sind sie so eine Art Titelverteidiger - das verpflichtet. 1974 blieb die Trophäe im Land. Außer gegen eine andere deutsche Mannschaft - die der DDR - wurde zu Hause noch nie eine WM-Partie vergeigt. Früher oder später werden sich jedoch echte Kracher in den Weg stellen, sodass eine Erfolgsprognose über die Vorrunde hinaus nicht sonderlich verlässlich sein kann.
Ihre drei Gruppenbegegnungen wird die DFB-Vertretung bestimmt überstehen - zumindest so weit darf man sich schon jetzt aus dem Fenster wagen. Danach beginnt die WM von vorn - mit möglichen All-inclusive-Buchungen, nicht nur für die deutschen Profis. Abrufbereit haben muss ein künftiger Weltmeister das ganze Programm: Leistungsträger in Topform. Taktische Varianten für jeden Gegner. Strategien für alle Spielstände. Fitness für die Verlängerung. Nervenstärke im Elfmeterschießen. Noch 131 Tage bis zum Endspiel.

Artikel vom 01.03.2006