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Das ist vielleicht ein Zirkus!
Wieso, weshalb und warum auch Schausteller-Kinder zur Schule müssen
Zirkuskinder haben es gut, könnte man meinen. Ständig sind sie in der Manege, dürfen sich verkleiden und brauchen nicht zur Schule. Denkste! Natürlich müssen auch Zirkuskinder lernen.
Mathe, Deutsch und Englisch: Der Stundenplan von Schausteller- und Zirkuskindern sieht nicht anders aus als der anderer Mädchen und Jungen. Das Besondere - ihr Klassenzimmer ist mobil, genau wie ihre Lehrerin. Bärbel Fritz unterrichtet an der Schule für reisende Zirkus-kinder. In ihrem rollenden Klassenzimmer grübeln Tag für Tag vier bis acht Schüler im Alter zwischen 6 und 16 Jahren über ihren Mathe-Aufgaben, zerbrechen sich den Kopf über das Thema ihres nächsten Deutsch-Aufsatzes oder fiebern ihrer Abschlussprüfung entgegen.
»In meinem Beruf muss ich sehr flexibel sein«, sagt die Pädagogin. Seit 1994 reist sie ihren Schülern hinterher. Ihr weitester Schulweg war 360 Kilometer lang. »Das ist aber die Ausnahme. Normalerweise fahre ich zwischen 60 und 70 Kilometer zur Arbeit.« Die Lehrerin aus Nordrhein-Westfalen stellte im Januar auf der Schaustellermesse »Interschau« in Hannover ihre Arbeit in der Schule auf Rädern vor. Da konnten sich interessierte Eltern und Kinder im Deutschen Pavillon auf dem Expo-Gelände über das Lernen auf Reisen informieren. Und das war für viele eine spannende Sache.
Mit der Ausbildung in der mobilen Schule können die Mädchen und Jungen einen Hauptschulabschluss sowie alle Abschlüsse der Sekundarstufe I erwerben. Einen Hauptschulabschluss hat beispielsweise auch Nathalie Weber. Die 24-Jährige hat als Schausteller-Kind etwa 30 bis 40 Schulen pro Jahr besucht. Sie musste sich immer wieder an neue Lehrer und unbekannte Mitschüler gewöhnen. »Das war eine wichtige Lebenserfahrung für mich. Ich habe gelernt, schneller Kontakte zu knüpfen«, sagt die Jungunternehmerin heute. Sie ist stolz auf ihren Volksfest-Stand, an dem sie Folien-Luftballons verkauft.
Etwa 1200 Kinder beispielsweise in Niedersachsen haben nicht die Möglichkeit, ständig eine Schule zu besuchen. Sie reisen als Schausteller- oder Zirkus-Kinder mit ihren Eltern umher. Ein Erlass des Kultusministeriums sorgt dafür, dass auch diese Mädchen und Jungen in Sachen Bildung nicht den Anschluss verpassen. »Schulen und Schulverwaltungen sind aufgefordert, Bildungsangebote zu schaffen, die den spezifischen Lebens- und Lernbedingungen der Kinder aus Familien beruflich Reisender Rechnung tragen«, erklärt der Staatssekretär im Niedersächsischen Kultusministerium, Hartmut Saager. Sowas gilt natürlich auch für andere Bundesländer.
Ein Lernkonzept, bestehend aus vier Säulen soll helfen, den Kindern die gleichen Bildungschancen zu verschaffen wie allen anderen Schülern. Ein Schultagebuch dokumentiert den Unterrichtsstoff und die individuelle Lernentwicklung. Die »Stammschulen« in den Winterquartieren der reisenden Familien bereiten den Schulbesuch während der Reisesaison vor, geben das Schultagebuch heraus und auch die Zeugnisse aus. An den »Stützpunktschulen« an verschiedenen Standorten während der Reise wird der Lehrstoff individuell vermittelt. Dafür sorgen »mobile Bereichslehrkräfte« wie Bärbel Fritz, die sich eine Arbeit an einer »normalen Schule« gar nicht mehr vorstellen kann.Simone Haserodt

Artikel vom 25.02.2006