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Wo ist der aufrüttelnde Roman
gegen die
Ungerechtigkeiten
von Hartz IV?

Leitartikel
Von Heinrich Heine lernen

Denk' ich an
Deutschland
in der Nacht


Von Dietmar Kemper
Heinrich Heine hätte die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung »Jyllands Posten« befürwortet. Meinungsfreiheit bedeutete ihm alles, zeitlebens war die Zensur sein Hauptgegner. Um gegen die gewaltsame Beschränkung der veröffentlichten Gedanken zu protestieren, ließ der Dichter im zwölften Kapitel seiner »Ideen« einen Text abdrucken, der außer »Die deutschen Zensoren« und »Dummköpfe« zwei Seiten lang nur Gedankenstriche enthielt.
So sehr haben sich die Zeiten geändert: Musste Heine um jedes Wort kämpfen, geht Politikern und Vertretern der Kirchen im 21. Jahrhundert die Pressefreiheit schon wieder zu weit. Die Erinnerung an den Dichter, der vor 150 Jahren starb, führt uns den hohen Wert der Meinungsfreiheit vor Augen und warnt uns davor, sie wegen ein paar Karikaturen gleich in Frage zu stellen. Heine hätte kopfschüttelnd darüber gespottet, dass ausgerechnet islamische Staaten, die unliebsame Schriftsteller zum Schweigen bringen und Andersgläubige verfolgen, sich im Westen als Richter aufspielen.
»Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen«, mahnte Heine im »Almansor«. Mit Karikaturen ist es nicht anders. Aber von dem klugen Schriftsteller können wir noch mehr als das Bekenntnis zur Meinungsfreiheit übernehmen. Lange vor Konrad Adenauer und Charles de Gaulle versuchte der jüdische Kaufmannssohn Brücken zwischen Deutschland und Frankreich zu bauen. Er gilt heute als erster Europäer.
Abgucken können wir uns von Heine das Misstrauen gegen die Mächtigen und den Einsatz für soziale Gerechtigkeit. »Verschlemmen soll nicht der faule Bauch, was fleißige Hände erwarben«, fordert er in »Deutschland: ein Wintermärchen«. 160 Jahre später plagen die 16 Bundesländer die größten sozialen Probleme seit Gründung der Bundesrepublik. Trotzdem sind Deutschlands Schriftsteller auffallend unpolitisch geworden, revolutionäres Pathos, wie es Heine verkörperte, geht ihnen völlig ab. Wo ist der aufrüttelnde Roman gegen die Ungerechtigkeiten von Hartz IV? Stoff dafür gäbe es genug, betonen die Wohlfahrtsorganisationen.
Genauso wenig wie die Politiker liefert unsere Autoren-Elite mitreißende Visionen von einer gerechten Welt. Selbst das Kabarett ist zahm geworden. Heute dominiert Comedy, und deren Stars kümmern sich weniger um den Zustand der Gesellschaft als vielmehr um die Frage, warum Männer nicht zuhören und Frauen nicht einparken können. Der Rückzug ins Private verdrängt das öffentliche Engagement.
Schließlich lehrt uns Heine auch das Misstrauen gegen weltliche Heilslehren. Der Zeitgenosse von Karl Marx warnte schon 1841 vor der »Propaganda des Kommunismus« und sah die Diktatur Weniger über das Volk voraus. Eine verunglückte Revolution sei das größte Unglück. Der frühere DDR-Regimekritiker Wolf Biermann brachte es jüngst auf den Punkt: »Heine stand an der Weltwiege des Kommunismus, wir stehen am Grab.«

Artikel vom 15.02.2006