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6000 frieren für »Tokio Hotel«

Mädchen schwänzen Schule und übernachten vor Seidensticker-Halle

Von Jens Twiehaus
Bielefeld (WB). »Morgen haben wir 'ne Lungenentzündung, aber das ist egal!« Anna-Katharina (17) und Julia (13) sind Tokio Hotel-Fans »bis auf die Knochen«. Sie warten jetzt schon seit 24 Stunden auf ihre Idole von Deutschlands erfolgreichster Teenie-Band.
Schwarm vieler Teens: Tokio-Hotel-Sänger Bill Kaulitz.
Gestern Nachmittag vor der Bielefelder Seidensticker-Halle. Plastikflaschen liegen auf dem durchweichten Boden, Mädchen mit selbst gemalten Plakaten und »Bravo«-Postern drängen sich an den Absperrgittern und warten auf ihre Idole. »Bill hat einfach den besten Charakter, sieht super aus und hat die geilste Stimme«, schwärmt Anna-Katharina über den Frontmann. Ihre Freundin Julia, die sie im Internet-Forum von »Tokio Hotel« kennen gelernt hat, findet den Gitarristen Tom »so süß«, weil er »das perfekte Styling hat«. Von ihren Lieblingen bekommen sie nicht genug. Sie hören die Musik immer und überall, »auch in den Schulpausen«, erzählt Anna-Katharina. »Die Jungs in meiner Klasse hassen mich schon. Die wollen nichts mehr mit mir zu tun haben, weil ich Tom so liebe«, sagt Julia. Ihrem Vater sei es egal, dass sie die Nacht durchgemacht habe, »solange ich gute Noten nach Hause bringe«. Gestern fehlte Julia allerdings in der Schule: »Wir haben blau gemacht«, sagen beide Mädchen. Nach einer eisigen Nacht im Freien und im Wagen der Sicherheitsfirma, kaum Essen und Trinken, haben sie nur den Wunsch: »Wir wollen endlich rein!«
Sauer sind vier Mädchen aus Bielefeld. Christina: »Wir haben einen 332 Meter langen Fanbrief geschrieben, aber das Management lässt uns nicht zu Tokio Hotel.« Auch Özgen hat um 16.30 Uhr, eine Stunde vor Einlass, »keinen Bock mehr auf das Konzert«. Die 13-jährige hat die ganz unangenehme Seite der Hysterie zu spüren bekommen- schmerzhaft, am eigenen Körper. »Auf einmal war so ein Durcheinander, ich wurde gegen eine Laterne gepresst, bin gefallen und alle haben auf mir rumgetrampelt«, berichtet sie und weint dicke Tränen. »Ich hab eben keine Luft mehr gekriegt«, sagt sie und atmet immer noch schwer, die Augen weit aufgerissen.
Was Özgen widerfahren ist, befürchten auch andere Eltern. »Deshalb bin ich mitgekommen«, sagt eine Mutter aus Paderborn, die mit Tochter Virginia (10) und zwei Cousinen am Eingang steht. Im August hat ihre Kleine die Musik der extravaganten Rock-Band gehört und war »hin und weg«. Und jetzt: ihr erstes Konzert. »Ich hoffe, dass alles gut geht«, flüstert die Mama und legt ihre Hand auf Virginias Kopf.
Ganz ohne die Eltern, aber dafür mit drei Freundinnen ist Marina (15) aus Bad Pyrmont gekommen - nachts um zwei Uhr, mit dem Taxi, für 70 Euro. »Die Kosten teilen wir uns«, sagt sie mit reichlich rauher Stimme. Ganz in der Nähe sucht ein Vater aus Bielefeld in der Masse nach seiner Tochter. »Die hat die Schule ohne mein Wissen geschwänzt«, schimpft er. »Die kann was erleben!«

Artikel vom 14.02.2006