13.02.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Zehntausende gegen
»unsoziales Machwerk«

Vor der Abstimmung über die Dienstleistungsrichtlinie

Berlin/Brüssel (Reuters). Mehr als 40 000 Menschen haben am Samstag in Berlin und Straßburg gegen die geplante EU-Dienstleistungsrichtlinie demonstriert. Die Regelung ist zum Symbol für den Streit zwischen den Anhängern und Kritikern eines möglichst freien Wettbewerbs geworden.

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, warnte auf der Berliner Kundgebung, bei einer Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie wäre »der freie Fall« programmiert. Deshalb müsse das »unsoziale Machwerk« zu Fall gebracht werden. In Straßburg sagte Christiane Hansen von Attac Deutschland: »Wir wollen kein Europa des totalen Wettbewerbs. Wer die neoliberale Politik fortsetzt, zerstört den europäischen Traum.«
In der Debatte um die Dienstleistungsrichtline stehen sich Hoffnungen auf zahlreiche neue Arbeitsplätze durch einfachere Regeln für grenzüberschreitende Geschäfte von Dienstleistern stehen Ängste vor Sozialabbau und rapide sinkenden Löhnen gegenüber. Allerdings haben Sozialdemokraten und Christdemokraten im EU-Parlament sich eine Woche vor der Abstimmung in Straßburg auf einen Kompromiss geeinigt.
Ein Binnenmarkt für Dienstleistungen würde nicht erst durch die Richtlinie geschaffen - er ist bereits in den EU-Verträgen festgeschrieben. Allerdings wird er nach Einschätzung der EU-Kommission durch zahlreiche nationale Hürden behindert und funktioniert nicht gut. Der Europäische Gerichtshof hat bereits eine Reihe von Urteilen gesprochen, wenn die Kommission bestimmte Beschränkungen ins Visier nahm.
Die Richtlinie soll allgemeinverbindlich klären, zu welchen Bedingungen Dienstleister aus einem EU-Land in einem anderen Aufträge übernehmen können. Einige bereits separat geregelte Branchen wie etwa Finanzdienstleistungen sind grundsätzlich ausgenommen. Erfasst werden dagegen viele Handwerksleistungen, einige freie Berufe wie Architekten und auch Unternehmensberater.
Zum Kern des Streits wurde das so genannte Herkunftslandprinzip. Danach sollten Unternehmen auch in einem anderen EU-Land zu den Regelungen ihres Heimatlandes arbeiten können. Im nun erreichten Kompromiss wird das Herkunftslandprinzip als Begriff fallen gelassen. Stattdessen ist von der Freiheit der Dienstleistung die Rede. Dies wird von den Sozialdemokraten als Erfolg reklamiert. Um Hürden abzubauen, wird den EU-Staaten allgemein verboten, Vorschriften zu erlassen, die den Grundsätzen der Notwendigkeit und der Nicht-Diskriminierung widersprechen und Dienstleister unnötig behindern. Dies entspricht weitgehend bisherigem EU-Recht. Umstritten war auch, für welche Bereiche die Richtlinie gelten soll. Die Christdemokraten akzeptierten, auch den Gesundheitsbereich, Zeitarbeitsagenturen und den Verkehrsbereich vollständig auszuklammern. Arbeitnehmerrechte werden festgeschrieben, dies soll auch für den Bereich des oft unterschiedlich geregelten Arbeitsschutzes gelten. Nationale Regeln zum Umweltschutz und zur öffentlichen Sicherheit sollen Gast-Dienstleister einhalten.
Das EU-Parlament debattiert morgen über die Richtlinie. Die Abstimmung ist für Donnerstag geplant. Zuvor müssen die Fraktionen den Kompromiss noch beraten. Deutlich wurden bereits unterschiedliche Interpretationen einiger Kompromissbestandteile zwischen den politischen Lagern. Falls die christdemokratische EVP und die Sozialdemokraten letztlich den Kompromiss billigen, hätten er eine deutliche Mehrheit.
Dann will die EU-Kommission beraten, welche Forderungen des Parlaments sie aufnimmt. Dann müssen die EU-Regierungen im Ministerrat beraten. Eine Einigung ist bis Juni geplant. Dabei stehen sich die Interessen der alten EU-Staaten an einem hohen Schutz vor der Konkurrenz aus Osteuropa und die Interessen der neuen EU-Länder an leichtem Zugang zum Markt gegenüber.

Artikel vom 13.02.2006