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Wenn die Anklage 320 Seiten lang ist

Franz-Josef Stockmann im Erzählcafe


Brackwede (ptr). In der Bibel heißt es: »Richtet nicht, auf das ihr nicht gerichtet werdet.« Franz-Josef Stockmann ist trotzdem seit 32 Jahren ehrenamtlich als Jugendschöffe beim Amtsgericht Bielefeld tätig. »Eine Tätigkeit, die mein Leben sehr bereichert hat«, berichtet er im Erzählcafe der evangelischen Bartholomäus-Gemeinde. Gleichzeitig betont er jedoch: »Mir geht es nach Möglichkeit nicht um eine Bestrafung der Täter, sondern um den erzieherischen Aspekt eines Urteils.«
Unabhängig, unparteilich und unvoreingenommen habe ein Schöffe zu sein, mit dem gesunden Menschenverstand zu entscheiden. Keine leichte Aufgabe: »Bei so mancher Verhandlung ballt man insgeheim die Faust in der Tasche. Andererseits bekommt man während eines Prozesses aber auch immer wieder Gründe präsentiert, die einen begreifen lassen, warum ein Straftäter so gehandelt hat.«
Als Schöffe sei man nicht nur die Garnierung am Richterpult, sondern habe die gleichen Rechte wie der Richter. »Man kann sich voll einbringen und zum Beispiel selbst Fragen an den Angeklagten stellen.« Detailliert schildert Stockmann die Abläufe eines normalen Prozesstages, ohne zu vergessen, diese immer wieder mit lustigen Anekdoten zu garnieren. 320 Seiten habe die dickste Anklageschrift umfasst, die er sich je anhören musste. »Da fällt es wirklich schwer, wach zu bleiben.«
Immer wieder erlebe man geradezu filmreife Auftritte von Angeklagten, die eine Tat rigoros abstreiten und behaupten: »Das ist mein Kumpel Wolfgang gewesen.« So mancher Anwalt trage beim Schlussplädoyer in punkto Theatralik jedoch auch etwas dick auf. »Da bekommt dann vom Rechtsanwalt zu hören, mit was für einem armen Sünderlein man es hier zu tun hat, dem man die Tat unter gar keinen Umständen zutraut.«
Bei der Urteilsfindung habe dann die jüngste Schöffin als Erste das Recht, ihre Meinung zu äußern. Insgesamt genüge eine Zwei-Drittel-Mehrheit. »Es kann also sogar sein, dass zwei Schöffen einen Richter überstimmen.« Als besonders schmerzhaftes Urteil habe sich der Entzug des Führerscheins bewährt.
Wer Schöffe werden wolle, könne sich selbst bewerben. »In der Regel wird man aber von Verbänden, Parteien oder Kirchen vorgeschlagen.« Einmal im Amt, habe man pro Jahr etwa zwölf Termine wahrzunehmen, die man nicht ablehnen könne. Ein eventuell eintretender Dienstausfall werde erstattet, der Arbeitgeber sei verpflichtet, einen Schöffen für Grichtstermine freizustellen.
Die Zuhörer dankten Stockmann mit reichlich Applaus für einen kurzweiligen Nachmittag im Erzählcafé. Dieser ließ es sich daraufhin nicht nehmen, zum Ausklang noch schnell ein Lied auf dem Klavier anzustimmen. »Weißt Du wieviel Sternlein stehen« erklang und alle sangen kräftig mit.

Artikel vom 11.02.2006