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Mit 86 Jahren in Beruf zurückgekehrt

Apothekerin Gretel Köchling gibt ihren Ruhestand auf, um vier Arbeitsplätze zu retten

Von Christian Althoff
Bad Salzuflen (WB). Mit den botanischen Studienreisen ans Mittelmeer, die sie so sehr liebt, ist erst einmal Schluss. Nach 20 Jahren Ruhestand hat Apothekerin Gretel Köchling (86) aus Bad Salzuflen ihren Kittel wieder aus dem Schrank geholt, um eine Apotheke mit vier Arbeitsplätzen zu retten.

Schlohweiße Haare, eine große Brille, ein freundliches Lächeln - Gretel Köchling wirkt wie eine Bilderbuch-Großmutter. »Die war ich auch lange - bis mich die Pflicht gerufen hat!«, schmunzelt die alte Dame und wendet sich dem Laptop zu, der in ihrem kleinen Büro im ersten Stock der Bad-Apotheke steht. »Nie hätte ich gedacht, dass ich mich in meinem Alter noch mal mit Computern befassen muss«, sagt die Lipperin. 1957 hatten sie und ihr Mann Julius die Bad-Apotheke eröffnet - als zweite Apotheke in der Kurstadt. »Heute gibt es allein in der Fußgängerzone zehn Stück«, erzählt die Lebensmittelchemikerin und Pharmazeutin. Und noch mehr hat sich seit damals verändert: »Pillen, Kapseln, Salben - früher haben wir viel mehr Medikamente selbst hergestellt, wie Hustensaft, der aus Brechwurzelextrakt, Himbeersaft und anderen Bestandteilen gemischt wurde.«
1963 starb Julius Köchling überraschend. Seine Frau führte das Geschäft weiter, bis vor 20 Jahren Computertechnik in Apotheken einzog und Gretel Köchling beschloss, ihren Ruhestand zu genießen. »Ich habe die Bad-Apotheke verpachtet und mich meinen Hobbys gewidmet: Reisen, Fotografieren, Klavierspielen - und meine sechs Enkel wollten schließlich auch unterhalten werden«, lacht die alte Dame.
Der Schock traf die Rentnerin an einem Freitag des vergangenen Jahres, als sie »ihre« Apotheke besuchte: »Der Pächter eröffnete mir, dass er am Montag schließen und die vier Mitarbeiterinnen entlassen werde.« Erst später sollte Gretel Köchling erfahren, dass dem Mann die Zulassung entzogen worden war. Kurzentschlossen holte die Frau ihren weißen Kittel aus dem Schrank und stellte sich wieder hinter den Tresen: »Das war kurzfristig die einzige Möglichkeit, die Apotheke zu retten.«
Leicht sei ihr der Wiedereinstieg nicht gefallen, gibt Gretel Köchling zu: »Ich habe zwar auch im Ruhestand meine Fachzeitschriften gelesen, aber es hat sich doch viel verändert.« Wissbegierig stöbert sie deshalb in aktuellen Veröffentlichungen und lernt die Namen neuer Wirkstoffe. »Zum Glück habe ich ein tolles Team, auf das ich mich verlassen kann«, sagt die Salzuflerin, die erfahren musste, dass das Geschäft härter geworden ist: »Früher trug der Verkauf von Arzneimitteln die Apotheke, und Kosmetika und Nahrungsergänzungsmittel waren unwichtigere Sortimentsbestandteile. Heute sind sie die Hauptumsatzträger«, sagt die Frau, die auf die Gesundheitspolitik nicht gut zu sprechen ist: »Wir Apotheker stehen als Kaufleute im Handelsregister. Trotzdem ist es uns verboten, wie Kaufleute zu wirtschaften und mit unseren Lieferanten Rabatte auszuhandeln - und das trotz geringer Spannen.« Auf ein Medikament, das beispielsweise 200 Euro koste, dürfe sie nur zwölf Euro aufschlagen. »Wenn Sie davon die Kosten abziehen, bleibt doch kaum etwas. . .«
Trotz ihres hohen Alters muss auch Gretel Köchling an jedem 19. Tag am Notdienst der Kurstadt teilnehmen: »Wenn dann nachts jemand klingelt, fällt es mir schon schwer, aufzustehen.« Ohnehin, sagt sie, fehle ihr der Schlaf: »Manchmal möchte ich abends noch einen Brief schreiben, aber dann nicke ich darüber ein.«
»Was unsere Chefin leistet, ist unglaublich«, sagt Iris Langhorst, Pharmazeutisch-Kaufmännische Assistentin. »Dass sie sich in ihrem hohen Alter noch so ins Geschäft stürzt und unsere Arbeitsplätze gerettet hat, finden wir einfach bewundernswert.« Auf Dauer will Gretel Köchling jedoch auf ihr Altenteil zurückkehren: »Ich bin auf der Suche nach jemandem, der die Apotheke pachten will. Und ich verspreche ihm, dass er eine tolle Mannschaft bekommt!«

Artikel vom 11.02.2006