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Justizskandal: »Unser Leben lag
in den Händen eines Bubis«

Pariser Richter verdächtigte 13 Franzosen zu Unrecht als Kinderschänder

Von Hanns-Jochen Kaffsack
Paris (dpa). Stockend und blass versucht Fabrice Burgaud, die bis Mitternacht auf ihn einstürmenden Fragen zu beantworten. Er hat einen feinen, anthrazitfarbenen Anzug angezogen, wie es sich wohl für einen rasch aufgestiegenen Untersuchungsrichter gehört. Immerhin hat das, was man in Frankreich nur die »Justizkatastrophe von Outreau« nennt, dazu geführt, dass sich erstmals ein Untersuchungsrichter vor einer Parlamentskommission rechtfertigen muss.
Lydia Mourmand, Schwester von Francois Mourmand, der während der Haft gestorben war, vor der Anhöhrung im Gespräch mit Medienvertretern.

Und vor Millionen Franzosen, die seine Worte und sein Auftreten auf sieben TV-Kanälen verfolgen können. Ein Medienereignis. Schien der Mann doch hauptverantwortlich dafür zu sein, dass 13 unschuldige Frauen und Männer jahrelang in U-Haft saßen. Es ging um Kinderschändung, Vergewaltigung, Zuhälterei.
Etappenweise waren in dem Kinderschändungsprozess 13 der 17 Angeklagten freigesprochen worden. Ein zu Unrecht Verdächtigter nahm sich in der Untersuchungshaft das Leben. Andere verloren ihre Arbeit. Ehen zerbrachen, Kinder kamen in Pflegeheime. Bei ersten Anhörungen der Kommission im Januar warf Outreau-Justizopfer Martel dem Richter vor, nur auf den Beweis von Schuld aus gewesen und damit nie von der Unschuldsannahme ausgegangen zu sein. Dennoch meinte Burgaud jetzt nur, »seine Arbeit ordentlich und ohne Parteinahme getan zu haben«.
Fabrice Burgaud wollte seine Haltung nicht verlieren. »Niemand hat mir gesagt, dass ich auf dem falschen Weg war«, erklärte der 34-Jährige mit einer ausdruckslosen Stimme am Mittwochabend in der Nationalversammlung in Paris den 30 Abgeordneten der Kommission. Sie soll klären, wie dieses Justizfiasko überhaupt möglich gewesen ist. Nein, er entschuldigte sich nicht bei denen, die wegen des »falschen Weges« so lange hinter Gitter waren und von denen einige es nicht ertrugen, ihm zuzuhören.
»Unser Leben lag in den Händen eines Bubis«, entrüsteten sich einmal mehr Alain Marécaux und Pierre Martel, die zu den Opfern der Ermittlungen gehören. »Der kleine Richter«, titelte gestern der »Figaro«. Denn nach Ansicht vieler richtete hier ein unerfahrener Mann mit viel Macht viel Unheil an. Einsam und allein musste er entscheiden, befasst »mit dem ganzen Horror, dem die Kinder ausgesetzt waren«, sagt Burgaud dazu. Niemand sei fehlerfrei, heute würde er doch manches anders machen.
Was in den Augen der Ermittler zunächst sogar nach einem großen französisch-belgischen Pädophilenring aussah, fiel nach und nach wie ein Kartenhaus in sich zusammen. In erster Instanz kamen sieben der Angeklagten frei, in der Berufung nochmal sechs: Die zweifelhaften Aussagen der hauptangeklagten Mutter hatten andere solange in Haft gebracht. Sie gab schließlich zu, »alles erlogen« zu haben. Sie, ihr Mann und ein benachbartes Ehepaar waren die einzigen Kinderschänder.
Die Kinder der hauptangeklagten Mutter waren von 1995 bis 2000 in einem sozialen Problemviertel des nordfranzösischen Ortes missbraucht worden, die Vorgänge im Dezember 2000 bekannt geworden.
Die später Freigesprochenen saßen zusammen insgesamt 26 Jahre in Untersuchungshaft, bis die beiden Prozesse 2004 in Saint-Omer und 2005 in Paris sie auf freien Fuß brachten. Burgaud verteidigte die Inhaftierung in der Anhörung als »eine Maßnahme, zum Schutz der Kinder getroffen«.
Richter Burgaud als Sündenbock? Auf den Titelseiten machte die französische Presse das »Justizsystem« verantwortlich und sprach wohl vielen Franzosen damit aus der Seele. Nur ein Untersuchungsrichter für ein so komplexes Ermittlungsverfahren, dazu ein sehr junger mit wenig Erfahrung, das trug zur »Justizkatastrophe von Outreau« sicher ebenso bei wie mangelnde Kontrolle der Ermittler. Insofern saß die Justiz auf der »Anklagebank« vor den Parlamentariern, die überlegen, welche Lehren sie ziehen sollen, mit welchen Gesetzen sie Abhilfe schaffen können.

Artikel vom 10.02.2006