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Hartes Urteil
entsetzt Türkei

Aber es gibt auch Selbstkritik

Istanbul (dpa). So schlimm wird es schon nicht kommen! Bis zuletzt hatte die Verbandsspitze den Fußballfans in der Türkei und sich selbst Sand in die Augen gestreut. Um so größer war das Entsetzen, als die Disziplinar-Kommission der FIFA in Zürich das »gnadenlose« Urteil verkündete.
Die Türkei muss alle Ausscheidungsspiele zur EM 2008 auswärts austragen - und das mindestens 500 Kilometer jenseits der Landesgrenzen. »Ich bin schockiert«, war die erste Reaktion von Verbandspräsident Haluk Ulusoy, der den Platz seines über das Skandalspiel gegen die Schweiz gestolperten Vorgängers Levent Bicakci einnahm. »Das Urteil ist sehr hart. Mir stehen die Haare zu Berge.«
Für Fußball-Begeisterte in der Türkei brach eine Welt zusammen. Erst das unrühmliche Ausscheiden in der WM-Qualifikation und jetzt das. Die »Hürriyet« meinte: Mit diesem Urteil habe der Weltverband in aller Form zu verstehen gegeben: »Euch wollen wir nicht.«
Ausgerechnet die Fußballfans, die sich nachweislich nicht an den Ausschreitungen im Stadion von Istanbul beteiligt hätten, würden von der FIFA abgestraft, empörte sich Staatsminister Mehmet Ali Sahin. »Was sind denn die Zuschauer daran schuld?«, klagte die Zeitung »Sabah«. Die FIFA beraube die Türken des Fußballs, indem sie ihnen verbiete, ihre eigene Nationalmannschaft spielen zu sehen. »Den Tränen in unseren Augen hat die FIFA keine Beachtung geschenkt«, jammerte das Blatt »Milliyet«.
Auch Halil Altintop, türkischer Torjäger des 1. FC Kaiserslautern, äußerte sich »sehr enttäuscht«. Doch er sieht die Realitäten: »Wir können und müssen damit leben. Wir müssen versuchen, durch gute Ergebnisse das wettzumachen, was wir uns eingebrockt haben.«
Ohne große Emotionen analysierte auch der türkische UEFA- Vizepräsident Senes Erzik den Ernst der Lage. Die Verantwortung eines Fußballverbandes beschränke sich nicht nur auf das Stadion, sie beginne bereits am Flughafen. Dort waren die Schweizer Spieler seinerzeit mit Sprüchen wie »Willkommen in der Hölle« begrüßt worden. Steine und Eier flogen auf den Bus, der sie ins Hotel brachte. Erzik: »Die Strafe macht eines ganz deutlich: Wir sind knapp an einem Ausschluss vorbeigekommen. Das heißt, die FIFA hätte uns genauso gut von den Ausscheidungsspielen für die WM 2010 ausschließen können.«
Selbstkritik kam von anderer Seite. »Wir haben geerntet, was wir gesät haben«, schrieb ein Kommentator der Zeitung »Hürriyet«. Die Türkei solle sich endlich auf guten Fußball besinnen, lautete ein Rezept im Sportblatt »Fotomac«: »Wenn wir 2008 in der Schweiz dabei sein wollen, müssen wir lernen, Spiele fair und dank unseres Könnens zu gewinnen.«
Ob die türkische Trainerlegende Fatih Terim dann noch das Team betreuen wird, ließ selbst Verbandspräsident Ulusoy offen. Dass ausgerechnet der türkische Chefcoach ungeschoren davon kommen soll, will auch vielen Schweizern nicht eingehen. »Vom wahren, wenn nicht einzigen Brunnenvergifter in dieser Sache ist im Urteil keine Rede«, schrieb die »Neue Zürcher Zeitung«.

Artikel vom 09.02.2006