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Arte filmt im Kirchenarchiv

Dokumentation über den SS-Offizier und Widerständler Kurt Gerstein

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Wie konnte ein SS-Offizier gleichzeitig Widerständler sein? In der Landeskirchlichen Bibliothek sucht ein französisches Filmteam für Arte nach Antworten: Kurt Gerstein (1905-1945) soll für und über sich sprechen.

Das Archiv bleibt in der kommenden Woche geschlossen.
Spätestens seit Rolf Hochhuth 1963 den Regimegegner aus Münster im »Stellvertreter« würdigte, beschäftigt Gerstein die Nachwelt. Vor vier Jahren war Constantin Costa-Gavras' Film »Amen/Der Stellvertreter« mit Ulrich Tukur erfolgreich, und am Montag erst wiederholte der WDR Claus Bredenbrocks Dokumentation »Der Christ, das Gas und der Tod«.
»Leider erst um Mitternacht, also völlig unter Wert gehandelt«, bedauert Prof. Bernd Hey, Leiter des Landeskirchlichen Archivs am Altstädter Kirchplatz, der sich freut, dass Arte den jetzt entstehenden Film zur besten Sendezeit ins Programm heben wird. »L'immense solitude de Kurt Gerstein« (Gersteins große Einsamkeit; Arbeitstitel) läuft Anfang Oktober im Rahmen eines Themenabends zur 60. Wiederkehr der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse.
Gerstein nämlich wurde als Zeuge für Nürnberg gesucht, war jedoch zuvor von den Franzosen als vermeintlicher Verbrecher interniert worden - der medizinisch vorgebildete SS-Obersturmführer hatte die Vergasung mit Zyklon B persönlich beobachten müssen. Zunächst wurde er ehrenvoll behandelt, nach der Überführung ins Pariser Militärgefängnis Cherche-Midi aber verschlechterten sich die Haftbedingungen des schwer Zuckerkranken. Am 25. Juli 1945 fand man Gerstein erhängt in seiner Zelle.
»Die französischen Akten wurden für 100 Jahre gesperrt - die Militärs sind eben Geheimniskrämer«, meint Hey. Mit Arte im Rücken hofft der Bielefelder Historiker und Archivar nun früher an die hochinteressanten Quellen zu gelangen.
Hey freut sich auf die Zusammenarbeit mit dem Pariser Filmteam »Soleluna«, denn hier wird der Porträtierte selbst zum Sprechen gebracht. Regie führt der versierte Dokumentarspezialist Gérard Raynal, der schon dreimal zu Recherchen nach Bielefeld reiste. »Da kam mir mal wieder mein Schulfranzösisch zugute«, sagt der ehemalige Ratsgymnasiast Hey.
Raynal lege Gewicht auf die religiösen Beweggründe für Gersteins mutiges Handeln, hat Hey schon bemerkt. »Eventuell werden wir vorsichtig einige Szenen nachstellen. Der Film wird aber ÝruhigerÜ als die von Interviews lebende WDR-Doku, denn Raynal zitiert eher die Quellen.« Zumindest Heys Hände werden wohl zu sehen sein. »Wir bewahren nämlich die originale Schreibmaschine auf, auf der Gerstein seinen berühmten Bericht tippte, mit der er das Ausland - vergeblich - wegen des Völkermords aufzurütteln trachtete«, berichtet Hey, der für die Kamera seine Finger auf die Tastatur legt.
Gerstein, der sich nach dem Abitur kirchlichen Kreisen anschloss und in der NS-Zeit für seine christlichen Überzeugungen misshandelt und inhaftiert wurde, hat in Jürgen Schäfer einen deutschen Biografen gefunden (»Kurt Gerstein - Zeuge des Holocaust«; Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 16).
Aber auch die Franzosen haben den hierzulande erst spät (1965) rehabilitierten Mahner und Warner gewürdigt: in Biografien von Saul Friedländer und Pierre Joffroy - letztere gerade im Aufbau-Verlag neu aufgelegt (»Der Spion Gottes«). Zur Ausstellung im Landeskirchlichen Archiv erschien ein - immer noch stark nachgefragtes - Begleitbuch von Bernd Hey und Matthias Rickling: »Kurt Gerstein (1905-1945) - Widerstand in SS-Uniform«.

Artikel vom 11.02.2006