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Tötungsserie
ohne Beispiel

Angeklagter bekundet nun »Mitleid«

Kempten (dpa). 29 hilflose Menschen soll er zu Tode gespritzt haben, darunter 16 nach Mordkriterien. Im Prozess um die größte Tötungsserie der deutschen Nachkriegsgeschichte hat der angeklagte »Todespfleger« von Sonthofen das Unfassbare gestern weitgehend gestanden.

Der 27 Jahre alte Mann bat die Angehörigen der Opfer zum Prozessauftakt vor dem Landgericht Kempten um Verzeihung: »Ich habe Schuld auf mich geladen.«
Die Anklage wirft dem jungen Mann vor, die Opfer, allesamt Patienten des Sonthofener Krankenhauses, von Januar 2003 bis zu seiner Verhaftung im Juli 2004 mit einer Medikamenten-Mischung zu Tode gespritzt zu haben. Die Ermittler werteten das in 16 Fällen als Mord (Heimtücke und niedrige Beweggründe) und zwölf Mal als Totschlag. Einmal liegt nach ihrer Ansicht Tötung auf Verlangen vor. Zusätzlich muss sich der Mann wegen gefährlicher Körperverletzung und Diebstahls in fünf Fällen verantworten.
Doch der 27-Jährige sieht das anders: Er habe aus »aufrichtig empfundenem Mitleid« gehandelt, sagte er im voll besetzten Gerichtssaal, und betonte, er habe bei einigen Todesfällen »voreilig« gestanden, obwohl er dafür möglicherweise nicht verantwortlich sei.
Als »sehr polemisch« kritisierte die Verteidigung unterdessen die Anklage. Er werde versuchen, den Mordvorwurf gegen den Beschuldigten zu entkräften, sagte der Frankfurter Strafrechtler Jürgen Fischer. Sein Mandant erklärte, er habe den meist schwer kranken Patienten »Leid ersparen und sie aus ihrer Ausweglosigkeit befreien« wollen. Erst nach seiner Inhaftierung sei ihm das Unrecht seines Handelns bewusst geworden: »Ich wusste, dass ich gegen Gesetze verstieß, fühlte mich aber im Recht.« Er bat die Hinterbliebenen der Opfer und seine Krankenhauskollegen um Verzeihung. »Ich habe dem beruflichen Ethos zuwider gehandelt und dem Vertrauen schweren Schaden zugefügt.« Die Festnahme habe ihn »befreit«: »Ich wollte den Opfern aus spontanem Mitleid helfen.«
Bei den Hinterbliebenen der Opfer, die als Nebenkläger im Gerichtssaal saßen, stießen diese Äußerungen auf Unglauben und Entsetzen: »Die Entschuldigung ist ein absoluter Hohn«, sagte etwa die 26 Jahre alte Enkelin einer der getöteten Frauen.
Der Verdacht gegen den Krankenpfleger war im Juli 2004 aufgekommen, nachdem im Sonthofener Krankenhaus der Diebstahl von Betäubungsmitteln aufgefallen war. Bei seiner Verhaftung hatte der Mitarbeiter des Hauses dann zunächst zehn Tötungen eingeräumt und später weitere Taten gestanden.
Der Prozess ist auf 22 Verhandlungstage angesetzt. Das Urteil wird bis Ende Mai erwartet.

Artikel vom 08.02.2006