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»Wehret den Anfängen« setzt Norm

Merkel positioniert Deutschland außenpolitisch mit historischem Bezug

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). »Große Koalition = kleine Werte« gilt nicht mehr. Am Wochenende hat Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Chiffre gebraucht, die glasklarer Normsetzung entspricht: »Wehret den Anfängen«

Die diplomatisch geschulten Ohren der Teilnehmer an der Münchner Sicherheitskonferenz müssen geradezu geklingelt haben, als die neue Kanzlerin in Sachen Iran das Stichwort »30er Jahre« fast beiläufig fallen ließ. Mehr noch, sie rückte den in Sachen Staatsführung auch gerade erst beginnenden iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad in den Dunstkreis Adolf Hitlers.
Das Ganze geschah allerdings so unaufgeregt, wie es ihrer nüchternen Art entspricht: »Der Iran muss gestoppt werden«, sagte sie und warnte vor Fehlern des Westens bei Hitlers Aufstieg seit 1933.
Politische Beobachter in Berlin und anderen Hauptstädten merkten auf. Schwereres Geschütz als »Wehret den Anfängen« könne ein deutscher Regierungschef auf internationaler Bühne kaum auffahren, hieß es unumwunden. Angesprochen sei die »Generalchiffre für die Verantwortung der Deutschen für den Holocaust und für das Lebensrecht des Staates Israel«, so etwa Hans-Jürgen Leersch in der Tageszeitung »Die Welt«. Einen amtierenden Politiker in die Nähe Hitlers zu rücken, das sei der gravierendste Vorwurf, den Deutsche nach westlichen Maßstäben überhaupt erheben könnten.
Ungewohnt deutlich sei der Beifall gewesen, berichteten Teilnehmer, als Merkel sagte: »Wir wollen und wir müssen die Entwicklung iranischer Nuklearwaffen verhindern«. Die Münchner Sicherheitskonferenz ist ein militär-diplomatisches Treffen, wie es steifer und emotionsloser nicht vorstellbar ist. Zuhörer wie NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer und US-Senator Joseph Lieberman waren ungewohnt offen: »Historischer Beitrag«, »große Rede«.
Merkels Ansprache werteten viele große europäische Blätter am Tag danach als endgültige Positionsbestimmung der Berliner Koalition im außenpolitischen Beziehungsgeflecht. Angesichts der Atompläne Teherans rücke Deutschland nun deutlich an die Seite der USA, hieß es. Das Merkel/Steinmeier-Deutschland kultiviere aber auch sein Arrangement mit dem stets etwas anders orientierten Frankreich. Jacques Chiracs Verweis auf die französische »Force de frappe« fand schließlich auch Merkels ausdrückliche Billigung.
Vergleiche mit der Nazi-Zeit haben deutsche Kanzler und Außenminister auch schon früher gezogen, aber vielleicht noch nie so klar. Die völkermörderischen Anwandlungen des Slobodan Milosevic auf dem Balkan etwa wurden 1999 von Rot-Grün auch auf die Ebene von Nazi-Verbrechen gehoben. Allerdings dienten die Bezüge mehr der innen- als der außenpolitischen Positionierung. Insbesondere ging es damals darum, das eigene tiefrote und tiefgrüne Lager auf die neue noch ungewohnte Verantwortung einzustimmen. Ganz klar: »Ethnische Säuberung« verstand diese Klientel besser als »Vertreibung«.
Folglich lautete die grün-interne Parole zur Begründung einer Offensiv-Entscheidung »Nie wieder Auschwitz«. Ähnliches in nur leicht anderer Form sagte Merkel: »Wehret den Anfängen.«

Artikel vom 07.02.2006