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Reiter im Sattel
der Zeitläufte

Historiker Reinhart Koselleck ist tot

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Am Freitag ist Reinhart Koselleck gestorben -ĂŠeiner der wirkmächtigsten Geschichtswissenschaftler, den die Zunft je hervorgebracht hat. Der Bielefelder Begriffshistoriker, der 82 Jahre alt wurde, analysierte die sprachlichen Umstände, unter denen Geschichte geschrieben und wahrgenommen wird.
Reinhart Koselleck - luzider Denker, begnadeter Sprachstilist.

Reinhart Koselleck, geboren 1923 in Görlitz, führte gegen alle Zweifler die mit Otto Brunner und Werner Conze begonnenen »Geschichtlichen Grundbegriffe« zu Ende. Darin findet sich eine eigene Wortprägung, die ihm einen Platz im Konversationslexikon sichert: »Sattelzeit«.
Koselleck veranschaulichte mit diesem Begriff, dass sich Ereignisse und Denken der Französischen Revolution wie ein Gebirgskamm vor die Vormoderne schieben und sie vom Heute abriegeln. »Links« und »rechts« von 1789, vor 1750 und nach 1850, schwingt politisches Handeln wie in Tälern aus, so dass sich der Graph eines Sattels ergibt - obenauf der Historiker als der die Zeitläufte überschauende Reiter.
In Kosellecks Werk kommt dem Bild des Wissenschaftlers im Sattel fast der Rang eines Leitmotivs zu - noch seine Rede zur Entgegennahme des Historikerpreises (2003) behandelte das Verschwinden von Pferd und Reiter in der Moderne. Die Kollegen begannen in Koselleckschen Begriffen zu denken; Thomas Nipperdeys »Deutsche Geschichte« über Arbeitswelt und Bürgergeist seit 1800 beginnt mit dem Satz, im Anfang sei Napoleon gewesen.
Koselleck gehörte dem Gründungsausschuss der Bielefelder Universität an und dirigierte fünf Jahre lang das Zentrum für interdisziplinäre Forschung. In Bielefeld entwickelte der eloquente und scharfzüngige, dabei humorvolle Wissenschaftler, Zentrum jeder Diskussionsrunde, seine Ideen zur Denkmalskultur, in der das zu würdigende Ereignis, das aufs Podest gehobene Individuum hinter dem Gefühlshorizont der Feiernden verschwindet. Die Historikerzunft hat ihren intellektuell anregendsten Protagonisten verloren.

Artikel vom 06.02.2006