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Gleisdiebe: Spur nach Bielefeld

Bundesweit einmaliger Fall von Schienenklau - Scheinfirma gab Auftrag

Von Jens Heinze
Bielefeld/Marburg (WB). Im bundesweit einmaligen Fall von Gleisdiebstahl führt die Spur nach Bielefeld. Zwei Wochen lang hatten Arbeiter in aller Öffentlichkeit 4,7 Kilometer Bahnstrecke demontiert und zum Abtransport zur Stahlschmelze bereit gelegt. Geschätzter Wert der Beute laut Polizeiangaben: 200 000 Euro.
Gefälscht: Die Auftragsbestätigung der Bahn für eine Bielefelder Firma.

Tatort war die oberhessische Gemeinde Lohra bei Marburg. Wie Erster Polizeihauptkommissar Udo Becker, Leiter der ermittelnden Bundespolizei-Inspektion Gießen, am Freitag bestätigte, sei von Mitte Januar an zwei Wochen lang unter den Augen der ahnungslosen Anwohner die stillgelegte Bahnstrecke Herborn-Niederwalgern auseinandergeschweißt und mit einem Bagger aus dem Erdreich gerissen worden.
Die vermutlich aus dem Bereich der ehemaligen Sowjetunion stammenden Täter hätten gründliche Vorarbeit geleistet, um dem dreisten Gleisklau einen offiziellen Anschein zu geben. Auf Nachfragen interessierter Nachbarn präsentierten drei Männer mit osteuropäischem Akzent eine Auftragsbestätigung der Deutschen Bahn. Mit diesem - gefälschten - Schreiben sollte eine Firma Industriemontage Werner GmbH mit Sitz an der Otto-Brenner 209 im Bielefelder Ortsteil Sieker ermächtigt worden sein, die bereits vor Jahren stillgelegte einspurige Nebenstrecke im Oberhessischen herauszureißen. Und die Kriminellen gingen noch einen Schritt weiter: Vor Beginn der Demontage wurde ein Infoblatt, das auch so aussah, als stamme es von der Bahn, an die Anwohner verteilt.
Eine Industriemontage Werner im viergeschossigen Geschäftshaus an der Otto-Brenner-Straße gibt es dort nicht. »Der Bielefelder Betrieb ist eine Scheinfirma«, so Erster Polizeihauptkommissar Becker. Trotzdem hofft der Chefermittler aus Hessen in Ostwestfalens Metropole weitere Spuren zu finden: »Irgendeinen Bezug der Täter zu Bielefeld muss es geben!«
Mittlerweile führen weitere Spuren des dreisten Gleisklaus quer durch Deutschland. Eine Firma in Essen soll eine Spedition aus dem Raum Lohra/Marburg beauftragt haben, die samt Stahlschwellen herausgerissenen Schienen zu Verwertern nach Kassel und Koblenz zu bringen. Bei acht Fahrten wurden je 20 bis 25 Tonnen Gleisschrott abtransportiert.
Die dreisten Täter, die nur aufgeflogen waren, weil ein aufmerksamer Eisenbahnfreund Alarm geschlagen hatte, wollten offenbar weitermachen: Auf der stillgelegten Bahnstrecke waren bereits neue Schienen auf einer Länge von einem Kilometer für den Abtransport vorbereitet worden.
Motiv für den einmaligen Gleisklau - Bahnsprecher Peter Grundmann: »So einen Fall hat es noch nie gegeben!« - ist der weltweit boomende Stahlmarkt. Wie Udo Becker von der Bundespolizei berichtete, werde eine Tonne Stahlschrott zur Zeit zum Rekordpreis von etwa 200 Euro gehandelt.

Artikel vom 04.02.2006