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»Totaler Streik« gegen Electrolux

Die IG Metall treibt Schließungskosten angeblich künstlich in die Höhe

Von Dietmar Kemper
Nürnberg (WB). Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) hat gestern bei seinem Besuch des AEG-Werks in Nürnberg den schwedischen Electrolux-Konzern aufgefordert, ein Angebot für den Erhalt der Arbeitsplätze vorzulegen.
Händedruck vom Minister: Franz Müntefering zeigt sich solidarisch mit den Streikenden im AEG-Werk. Foto: dpa

Den Streik nannte Müntefering »Notwehr«. Anschließend trafen sich Vertreter des Unternehmens mit der IG Metall zu Verhandlungen. Seit dem Beschluss des Haushaltsgeräteherstellers vom 12. Dezember, das AEG-Stammwerk in Nürnberg Ende 2007 zu schließen, herrscht »totaler Streik«, wie es Gewerkschafter Jürgen Wechsler ausdrückt. Nürnberg ist das Exerzierfeld einer neuen Gewerkschaftsstrategie, glaubt das Institut der deutschen Wirtschaft (iwd) in Köln. »Die Schließungs- und Entlassungskosten sollen künstlich in die Höhe getrieben werden«, sagte dessen Tarifexperte Hagen Lesch gestern dieser Zeitung. Unter dem Druck des Produktionsausfalls solle Electrolux zu einem üppigen Sozialtarifvertrag gezwungen werden und die Kosten für die Arbeitslosigkeit weitgehend übernehmen. »Die Gewinner sollen die Verlierer entschädigen«, betont Lesch. Die Gewerkschaft vermische Unternehmens- mit Tarifpolitik, um Electrolux zur Kasse zu bitten. Denn die Entscheidung, ein Werk zu schließen, habe prinzipiell nichts mit der Bezahlung der Mitarbeiter zu tun.
Bei der Auseinandersetzung im AEG-Werk zeige die IG Metall ihr zwiespältiges Verhältnis zur Globalisierung. Lesch: »Globalisierung akzeptiert die Gewerkschaft dann, wenn neue Märkte erschlossen werden, aber sie wird verteufelt, wenn ein Unternehmen die unterschiedlich hohen Produktionskosten in den Ländern ausnutzt.« Im AEG-Werk gehen 1750 Jobs verloren. Die Herstellungskosten sind zu hoch, argumentiert Electrolux. Deshalb werde die Produktion nach Italien und Polen ausgelagert. Die Kosten, um das Werk in Bayern abzuwickeln, schätzt Electrolux auf 245 Millionen Euro.ÊDie IG Metall will den Abschied teuer machen.
In dem schwedischen Konzern habe man eine solch harte Gangart nicht erwartet, erklärte der Paderborner Soziologe Arno Klönne gestern den ausgeprägten Unmut in Nürnberg. Ausgerechnet ein Unternehmen aus dem früheren Musterland für Sozial- und Wohlfahrtsstaatlichkeit verhalte sich knallhart wie ein US-Konzern. Die Belegschaft habe den Eindruck gewonnen, dass der Versuch, Kompromisse auszuhandeln, nicht weiter hilft, sagte der Wissenschaftler, der sich ausgiebig mit der Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland beschäftigt hat. Das hierzulande hoch gehaltene Ideal, demzufolge Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Krise einen gemeinsamen Nenner finden, zerschelle an den rauen Gesetzmäßigkeiten der globalisierten Wirklichkeit. »Der sozialpartnerschaftliche Kompromiss war eine spezifisch deutsche Antwort auf Arbeitskämpfe«, sagte Klönne dieser Zeitung.

Artikel vom 03.02.2006