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Hochspannung
bei einer Reise
durch die Zeit

Heft über Archäologie in Westfalen

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Bielefeld und Umgebung? Ja, das war toter Raum, bis Karl der Große anmarschiert kam. Stimmt zwar nicht, aber dass Ostwestfalens Vor- und Frühgeschichte reich an spannenden Episoden ist, steht nur in Fachzeitschriften. Genau das ändert sich jetzt: Der erste allgemeinverständliche Blick auf 200 000 Jahre Menschheit in der Region ist erschienen.

In Afrika, der Wiege der Menschheit, nimmt uns Michael Baales an der Hand und führt uns im einleitenden Aufsatz durch die Steinzeit. 0,8 Prozent der gut 2,5 Millionen Jahre währenden Geschichte der Menschheit lassen sich anhand schriftlicher Zeugnisse ergründen - wer die Zeit davor ergründen will, muss graben. Band 9 der »Archäologie in Westfalen« breitet auf 106 Seiten (mit vielen Fotos und Zeichnungen) das Wissen der Zunft aus.
Die von der Gesellschaft zur Förderung der Archäologie in Ostwestfalen herausgegebene Textsammlung ist jetzt überall im Buchhandel und an der Kasse des Naturkundemuseums an der Kreuzstraße 20 erhältlich. Es kostet 9,90 Euro.
»Meist blicken wir Archäologen kaum über unser aktuelles Projekt hinaus«, sagt Daniel Bérenger, Leiter der Bielefelder Außenstelle des Amtes für Bodendenkmalpflege, bedauernd. Endlich einmal durften die Spezialisten zeigen, welch reiche Früchte ihre Arbeiten getragen haben, und das sind nicht wenige. 200 000 Jahre alt ist der erste datierbare Bielefelder Fund, Feuerstein-Werkzeuge aus dem Johannistal. Und was mancher Passant im Grünzug an der Stralsunder Straße (mangels Beschriftung) für ein »markiertes Katzengrab« (Bérenger) hält, ist in Wirklichkeit der Grundriss eines Sieker Langhauses aus der Römerzeit.
Derzeit noch unlösbare Rätsel gibt eine 9,6 Zentimeter lange, gut 2100 Jahre alte Bronzestatuette der Wissenschaft auf. Sie stellt einen Eber dar, den man in Erwitte fand. »Die Kelten benutzten Eberdarstellungen als kriegerisches Symbol - aber was wussten die alten Erwitter davon?«, fragt sich Bérenger. Deutet sich da ein uralter Handelsweg, ein früher Fall von Kulturaustausch auf?
Den auf dem Titel der Broschüre abgebildete Schmuck aus Eisen, Bronze und Bernstein »mag man kitschig finden«, ahnt der Archäologe. Er zeuge jedoch von einem »geradezu modernen Sinn für Form und Farbe« - und machte vor 2500 Jahren einen Mann (!) aus Warendorf noch schöner, als Gott ihn geschaffen hatte.
In vier Aufsätzen lernen interessierte Laien die Lebenswirklichkeit in der Steinzeit kennen, dann die Bronze- und Eisenzeit, die bislang sträflich vernachlässigte römische Kaiserzeit (»ohne Varusschlacht - das waren eh nur drei Tage, und das ereilt uns im Jahr 2009 noch früh genug«; Bérenger), schließlich das frühe Mittelalter, bis Karls Franken kamen.
Mit ihrem Bericht über die »Archäo-Welle« führt Brigitte Brand vom Westfälischen Museum für Archäologie ein Lehrstück vor, wie phantasiebegabte Wissenschaftler ihre Funde bürgernah präsentieren können. »Um dieses ÝMuseum en passantÜ beneidet uns ganz Deutschland.« Ein Unikat erster Güte. Bielefeld besitze hier einen wahren Schatz, ein Pfund, mit dem jedoch weder die Lokalpolitik noch die heimische Wirtschaft zu wuchern verstünden.
Beschämend: Nicht ein einziges Hinweisschild scheint finanziell erschwinglich zu sein. Höchste Zeit also, die Bürger mit archäologischen Themen zu fesseln. Höchste Zeit für dieses Heft.

Artikel vom 30.01.2006