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Gratwanderung nach
allen Regeln der Kunst

Glucks »Orpheus und Eurydike« als Tanzoper

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Die Schallplatte ist zuende. Jemand hat vergessen, den Arm zurück auf die Gabel zu legen. Jetzt legt die in leerer Bahn knisternd kreisende Nadel allegorisch den Finger in die Wunde, die durch das Ende einer Beziehung geschlagen wurde.

Der DJ am Theater Bielefeld heißt Gregor Zöllig. Aufgelegt hat er den von Christoph Willibald Gluck und seinem Librettisten Calzabigi zur Oper geformten Mythos von Orpheus und Eurydike (Orfeo ed Euridice). Und wie es sich für einen Plattenaufleger von heute gehört, behandelt Zöllig das Material eigenständig kreativ. In Zusammenarbeit mit dem Tanzensemble entwickelte Bielefelds Chefchoreograf eine experimentelle, spartenübergreifende Tanzoper. Nach dem Gusto: Musik und Gesang sagen viel, Ausdruckstanz vermag noch mehr, doppelt Zöllig die Hauptfiguren Orpheus (Kaja Plessing) und Eurydike (Victoria Granlund) mehrfach durch Tänzer und Tänzerinnen. Als ihr Alter ego sollen sie die komplexen Gefühle und Gedanken des Paares verbildlichen, ja sogar darüber hinaus deuten.
Verströmt Kaja Plessings unmanirierter Mezzo die Trauer um den Verlust von Eurydike unter die Haut gehend eindringlich, winden sich ihre Doubles auf dem Tanzboden. Krampfhaft richten sie sich auf und klappen doch immer wieder zusammen. Ja, der Schmerz sitzt tief, sagt diese in schonungsloser Expressivität aufgebotene Verbildlichung. Auch die in Wut und Hass umschlagende Enttäuschung Eurydikes hat es in sich und richtet sich in körperlicher Gewalt gegen den Geliebten. Warum nur, so fragt man sich, zappeln und zucken all die Eurydikes im Elysium so manisch-panisch, noch dazu im Krebsgang über die Bühne? So manche körperliche Verausgabung bleibt rätselhaft.
Als Zuschauer hat man über die unvermeidlichen Schleif- und Fallgeräusche der Tanzeinlagen hinwegzuhören. Da geht die optisch beeindruckende Stimulierung zu Lasten des Hörgenusses. Dafür meint es Zöllig visuell gut, wenn nicht zu gut.
Müssen wirklich Tafeln mit Wortversatzstücken beschriftet werden, um auf Gefahren hinzuweisen? Braucht's Videoeinspielungen, um Eurydike als Objekt der Begierde darzustellen? In der ohnehin künstlerischen Dichte der Inszenierung wirken solche Extras überfrachtend.
Daneben bieten gediegenes Bühnenbild mit Polsterwänden (Tilo Steffens) und moderne Kleidung (Rupert Franzen) einen zeitgemäßen, intimen Rahmen für den um Liebe, Tod und Verlust kreisenden Stoff sowie für große Gefühle. Kaja Plessing, glänzend im Ausdrucksspektrum zwischen leidenschaftlicher Erregung und stiller Trauer, ließ Durchschlagskraft indes vermissen. Victoria Granlund konnte neben gewohnt strahlend-heller Soprankunst auch tänzerische Fähigkeiten einbringen, und Anke Briegel bot als Amor dem Tod (Dirk Kazmierczak) keck Paroli. Der Chor (Hagen Enke) als Träger des dramatischen Geschehens fügte sich gesangstechnisch wie darstellerisch gut ins Geschehen ein. Und das unter Carolin Nordmeyer tonmalerisch aufspielende Orchester transportierte den Schauder ebenso gekonnt und griffig wie die pastorale Idylle. Vom Premierenpublikum gab's für all das langandauernden Beifall.

Artikel vom 30.01.2006