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Abschied vom Opa unbezahlbar

ALG II-Empfänger kann sich Reise zur Beerdigung des Großvaters nicht leisten

Von Christian Althoff und
Wolfgang Wotke (Fotos)
Steinhagen (WB). Fred Kaier (48) lebt von 237,40 Euro Arbeitslosengeld II. Am Donnerstag ist sein Großvater am Bodensee gestorben, doch der Enkel kann sich als einziger noch lebender Verwandter nicht um die Beerdigung kümmern: »Die Zugfahrt dorthin kostet 236 Euro, und die Gemeinde Steinhagen will mir nicht helfen«, sagt der arbeitslose Kraftfahrer.
August Kaier starb mit 96 Jahren am Bodensee.
Ebbe im Kühlschrank: »Zum Glück bekomme ich preiswertes Essen von der Gütersloher Tafel!«
Fred Kaier stammt aus dem Bodensee-Dorf Rielasingen unweit der schweizerischen Grenze. Hohe Arbeitslosigkeit und die Liebe zu einer Frau hatten den gelernten Sanitärinstallateur vor Jahren nach Ostwestfalen verschlagen, wo er als Lkw-Fahrer Arbeit gefunden hatte. Die Liebe ist inzwischen erloschen, und auch seine Arbeitsstelle hat Fred Kaier vor zwei Jahren verloren. 300 Bewerbungen hat er nach eigenen Angaben seitdem geschrieben, in ungezählten Zeitarbeitsfirmen hat er sich vorgestellt. »Die einen meinen, ich sei zu alt, die anderen wollen mich nicht, weil ich kein Auto habe«, sagt der 48-Jährige. Dreimal hat er im vergangenen Jahr für jeweils vier Wochen kostenlos bei Speditionen und einer Recyclingfirma gearbeitet, um die Chefs von sich zu überzeugen. »Die haben anschließend Danke gesagt, und das war's«, sagt der Steinhagener.
Seit dem Jahr 2005 lebt Fred Kaier vom Arbeitslosengeld II (Hartz IV). »GT aktiv«, eine Arbeitsgemeinschaft des Kreises Gütersloh und der Bundesagentur für Arbeit, bezahlt ihm seine Miete und die Krankenversicherung, außerdem stehen ihm 345 Euro Arbeitslosengeld II zu. Ausgezahlt bekommt der Steinhagener aber nur 237,40 Euro - weil seine Wohnung mit 68 Quadratmetern größer ist als zulässig und er für eine Weiterbildungsmaßnahme noch Raten abzahlen muss.
»Von meinen monatlich 237 Euro muss ich Strom, Telefon, Kleidung und Lebensmittel bezahlen«, erzählt der 48-Jährige. Dass er über die Runden komme, sagt er, habe er vor allem der »Gütersloher Tafel« zu verdanken - einem mildtätigen Verein, der mit Hilfe örtlicher Sponsoren Lebensmittel für einen symbolischen Preis an Bedürftige abgibt.
Freitagmorgen erfuhr Fred Kaier, dass sein Großvater August am Vorabend in einem Altenheim in Rielasingen mit 96 Jahren gestorben war. »Ich bin sein einziger noch lebender Verwandter, und wir hatten immer einen sehr guten Kontakt«, erzählt der 48-Jährige. Noch am Wochenende zuvor habe er sich beim Pfleger seines Großvaters nach dessen Befinden erkundigt: »Da ging es Opa noch gut.«
Bei der Gemeinde Steinhagen, wo der für Fred Kaier zuständige Mitarbeiter von »GT aktiv« sitzt, erkundigte sich der Arbeitslose am Freitag, ob ihm die Bahnfahrt zum Bodensee bezahlt werden könne. »Der Sachbearbeiter sagte, solche Leistungen seien für ALG II-Empfänger nicht vorgesehen. Er erklärte, die monatliche Pauschale müsse für alles reichen, und schickte mich wieder nach Hause. Ich war fix und fertig, denn irgendjemand musste sich doch jetzt um Opa kümmern!«
Der Steinhagener rief einen Jugendfreund an, der als Bestatter in Rielasingen arbeitet, und dieser sagte ihm zu, erst einmal das Notwendigste zu veranlassen. Denn für seine Beerdigung hatte August Kaier Geld zur Seite gelegt. Dann wandte sich Fred Kaier noch am Freitag unter der kostenfreien Nummer 0800/4 40 05 50 an den Ombudsrat in Berlin - ein Gremium, an dessen Spitze der frühere sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, die ehemalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann und der frühere Vorsitzende der IG Chemie, Hermann Rappe, stehen. Der Ombudsrat berät einerseits die Bundesregierung in Sachen ALG II, andererseits beantwortet er Fragen von Betroffenen. Fred Kaier: »Dort bekam ich die ermutigende Auskunft, dass ALG II-Empfängern in einem Sonderfall wie meinem sehr wohl Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch 12 zustehen!«
Mit diesem Wissen will Fred Kaier heute erneut bei »GT aktiv« vorsprechen - in der Hoffnung, dass er doch noch zur Beerdigung seines Großvater fahren kann.

Artikel vom 30.01.2006