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Nachkriegsgeschichte geschrieben

NRW-Landesvater und Bundespräsident - Auch im Ausland Spuren hinterlassen

Von Norbert Klaschka, Reinhard Brockmann und Claus Haffert
Bielefeld (WB/dpa). Die einen drei Buchstaben waren so gut wie die anderen. Rau war NRW, und NRW war Rau. Der am Freitag verstorbene Ex-Bundespräsident war auch Deutschland und Ostwestfalen-Lippe.

Zu seinen letzten Geburtstag, dem 75., hatte er noch einmal mehr als hundert Freunde ins Schloss Bellevue eingeladen. Aber Johannes Rau war nicht mehr stark genug. »Seine Tagesform lässt es nicht zu«, musste Amtsnachfolger Horst Köhler mitteilen. Von zwei schweren Operationen nach dem Ausscheiden aus dem Amt - im August und Oktober 2004 - hat er sich nicht mehr erholt. Im neuen Büro in der Berliner Friedrichstraße blieben viele Einladungen liegen. Niemanden dürfte das mehr geschmerzt haben als den pflichtbewussten Preußen aus dem Bergischen Land.
Mit Rau ist einer der letzten großen Politiker gestorben, die noch Nachkriegsgeschichte geschrieben haben. Schon die Dauer der »Ära Rau« in NRW ist beeindruckend. Fast zwei Jahrzehnte war er Ministerpräsident, 28 Jahre gehörte er der Landesregierung an, 40 Jahre saß er im Landtag.
Parteiübergreifend verkörperte Rau das Zusammenwachsen von Rheinland, Westfalen und Lippe. Niemand hat gezählt, wie oft er in Ostwestfalen-Lippe zu Gast war. Als ausgemacht gilt, dass es nicht eine politische Gemeinde im fernsten Landesteil gibt, die er ausgelassen hat.
Sein politischer Weg hatte in den 50ern in einer politischen Sackgasse begonnen - in der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) seines »Ziehvaters« Gustav Heinemann. Nach dem gemeinsamen Übertritt in die SPD nahm der gelernte Verlagsbuchhändler dann aber die ersten Sprossen. Als jüngster Abgeordneter zog der damals 27-Jährige 1958 in den Landtag ein. Mit 35 war er Fraktionschef - ebenfalls als Jüngster in diesem Amt. Über den Posten des Wissenschaftsministers schaffte er 1978 den Sprung an die Spitze der nordrhein-westfälischen Politik.
In die Spitze der Landes-SPD und ins Kabinett gelangte er als Außenseiter. Den kantigen Friedhelm Farthmann wie seinen alten Freund aus GVP-Tagen, Diether Posser, stach er aus, ohne sie zu verletzen.
Posser hat dieser Zeitung einmal erläutert, dass er unter der Zurücksetzung gar nicht habe leiden können, weil der junge Rau ideal für die Erneuerung der alten SPD stand. »Der Lokomotive in voller Fahrt die Räder wechseln«, hatte Rau als Devise ausgegeben. Der Anspruch war de facto unerfüllbar, aber geeignet, die Arbeiterpartei zu motivieren. Posser gestand ein, er hätte in dieser Phase nicht führen können.
Bei zwei dramatischen Parteitagen bewies der später als Zögerer und Zauderer gescholtene Rau, dass er im entscheidenden Moment zugreifen konnte. Bezeichnend für ihn war, dass er seinen unterlegenen Konkurrenten Farthmann noch am gleichen Tag auf ein Bier zu Hause aufsuchte.
Drei mal sicherte er der SPD bei Landtagswahlen 1980, 1985 und 1990 die absolute Mehrheit. Als Meister der Stegreifrede und politischen Anekdote vermittelte der NRW-Regierungschef immer wieder den Eindruck, er besitze zu fast jedem in »seinem« 18-Millionen-Land eine persönliche Beziehung.
»Das Wichtigste waren die Menschen, die Namen und Adressen haben, aber keine Schlagzeilen füllen«, lautete Raus Fazit bei seinem Abschied vom Amt des Ministerpräsidenten im Mai 1998. Über den Ruf eines »entscheidungsschwachen Festredners« ärgerte er sich allerdings kräftig. Er sei nicht »der gute Onkel aus Wuppertal«, stellte klar.
Schwer tat sich Rau schon in NRW mit dem Loslassen. Den fast ewigen Kronprinzen Wolfgang Clement (SPD) lehrte er, was sonst keiner schaffte: Geduld.
Auch als Bundespräsident pflegte Rau abseits der Haupt- und Staatsaktionen die menschlichen Gesten. Er erwies den »stillen Helden« der Nazi-Zeit seine Reverenz, die in den Zeiten der Diktatur Verfolgten Schutz gewährten.
Seine Suche nach dem Kompromiss hielt ihm manch ein Kritiker vor. Er wandte dagegen ein: »Niemand halte Behutsamkeit in der Sprache für Zögern in der Sache.«
Dabei gab es klare Worte. Er forderte eine geregelte Zuwanderung, griff in die emotionalen Debatten um ein Kopftuchverbot und die Gentechnik ein, kritisierte die Rücksichtslosigkeit mancher Eliten in Politik und Wirtschaft, geißelte Fehlentwicklungen in der Mediengesellschaft.
Wichtig war ihm die Aussöhnung mit Polen und Israel, wo er im Februar 2000 als erster deutscher Politiker vor der Knesset reden durfte. Auch völlig vergessene Orte suchte er auf. So fuhr er im April 2000 in das griechische Bergdorf Kalavryta, wo die Wehrmacht 1943 ein Massaker an der heimischen Bevölkerung angerichtet hatte. Der geschundene Kontinent Afrika lag ihm am Herzen. In China prangerte er Menschenrechtsverletzungen an.
In Erinnerung bleibt vielen der »Bruder Johannes«, ein Titel, den ihm wegen seiner Bibelfestigkeit Vorgänger Heinz Kühn angeheftet hat. Mit Bibelzitaten konnte Rau, der Kraft aus seinem christlichen Glauben schöpfte, aus dem Stegreif jede Rede schmücken. Und abends, wenn mal in kleiner Runde ein Gespräch ins Stocken zu geraten drohte, lockerte er die Atmosphäre mit Witzen auf - sein Vorrat war schier unerschöpflich.

Artikel vom 28.01.2006