26.01.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

An den ersten freien Kommunalwahlen am 13. Oktober 1946 beteiligten sich 74,6 Prozent der Bielefelder Wahlberechtigten. Foto: Stadtarchiv

Statt Einstimmigkeit ist
eigene Meinung gefragt

1946: Der »ernannte Rat« startet in die Demokratie (2)

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Mit Josef Niestroy hatten die Briten einen »gesellschaftlichen Außenseiter« an die Spitze der Stadt berufen. Die SPD, die ohnehin glaubte, man habe sie übergangen, favorisierte einen Kandidaten mit ungleich mehr Charisma: Artur Ladebeck. Im zweiten - abschließenden - Teil dieser WESTFALEN-BLATT-Serie bricht Bielefeld in die Demokratie auf.

Die Männer des 514. Military Government Detachment um Major (später Lieutenant Colonel) Douglas MacOlive, die im Hotel »Vereinshaus« (Vier Jahreszeiten) an der Bahnhofstraße ihre Zelte aufschlugen, wollten nicht nur ihr Image als »Besatzer« vergessen machen. Sie hatten sich auch mit ideologischen Querelen in der Bielefelder Politik herumzuschlagen. Schon früh reagierte MacOlive gereizt auf Vorwürfe, Niestroy habe eine »Willkürherrschaft« errichtet - der aus dem oberschlesischen Beuthen stammende Katholik, in Verwaltungsdingen gänzlich unerfahren, führte aus, was ihm die Briten befahlen.
Und er hatte wenig Spielraum, wie Reinhard Vogelsang, der ehemalige Leiter des Stadtarchivs im dritten Band seiner Stadtgeschichte zeigt. Alle Aufgaben, von der Nahrungsbeschaffung bis zur Disziplinierung marodierender Freigelassener (ehemalige Zwangsarbeiter), zur Zufriedenheit der heterogenen Bevölkerungsgruppen zu bewältigen, schien utopisch zu sein. Niestroy verhalf der gequälten Stadt dennoch zu einem guten Start - eine »besondere Leistung«, wie Vogelsang anerkennend feststellt.
Am letzten Tag des letzten Kriegsjahrs schlug die Stunde des Mannes, der Bielefeld endgültig aus dem Nachkriegselend ins Wirtschaftswunder führen würde: In einer feierlichen Zeremonie übernahm Artur Ladebeck (1891-1963) das Amt des Oberbürgermeisters. Der gebürtige Berliner, Weltkriegsoffizier und fähiger Pädagoge, seit 1919 SPD-Mitglied, mehrfach inhaftierter Dissident unter dem NS-Regime, hatte zunächst (ab Juni 1945) als Landrat die Belange des Bielefelder Landkreises vertreten. Mit der Ernennung zum OB sah sich der »Vollblutkommunalpolitiker« (der Bielefelder Historiker Martin Löning) endlich am Ziel.
Ladebeck führte nun ein Parlament aus Männern, die größtenteils bereits vor 1933 politisch sozialisiert worden waren. Was das Parteiengefüge anging, »verfestigte sich durch den Ýernannten RatÜ die Rückkehr zu den Kräfteverhältnissen der Weimarer Republik«, resümiert Löning in »Neuanfang der Alten« (Ravensberger Blätter 2, 1995). Frauen übrigens sucht man in diesem Gremium fast vergeblich - das Rollenverständnis in der Sozialdemokratie wies der Frau den karitativen Bereich zu (AWO). Mit der »Witwe« Maria Sachs, der »Ehefrau« Dora Triem (so gab die Presse den Status der Politikerinnen an) sowie der in der CDU zu großem Ansehen gelangten Ärztin Dr. Viktoria Steinbiß (1891-1971) blieb die feminine Komponente in der Lokalpolitik etwas unterbelichtet.
Der neue Rat (40, nach anderen Angaben 42 Personen) tagte erstmals am 30. Januar, einem Mittwoch. Erste Amtshandlung: »The Representative Town Council has elected the former manager of the ÝFreie ScholleÜ Hans Carlmeyer to the office of Stadtkämmerer« (der Rat hat den ehemaligen Chef der Freien Scholle, Hans Carlmeyer, zum Stadtkämmerer gewählt), schrieb der OB dem Militärgouverneur und bat, Carlmeyers Bestallung zu bestätigen.
Ach so: In jenen fernen Zeiten wurde man gewählt, bevor noch die Höhe der Entlohnung feststand - in seinem Schreiben kündigt der OB dies für eine spätere Sitzung an.
Ein »Report on Development of Democracy in Administration«, der im Stadtarchiv einsehbar ist, wirft ein Schlaglicht auf jene frühen Sitzungen, in denen sich keine Partei als »Regierung«, keine als »Opposition« verstand. Viele Ratsmitglieder hätten sich überhaupt nicht gekannt und seien erstmals mit einer »demokratischen« Tagesordnung konfrontiert worden, heißt es da.
Die Briten bemängeln, dass die Redner grundsätzlich für ihre Partei sprächen - in persönlichen Briefen wurde jedem nahegelegt, er solle »express his own opinion« - seine eigene Meinung sagen. Zur Klärung strittiger Fragen die Sitzung zu unterbrechen, damit die Fraktionsvorsitzenden Chancen für Lösungen sondieren konnten, fanden die Briten undemokratisch. Dass man auf einstimmige Beschlüsse setzte - in einem Parlament, dem Bürgerliche und KPD nebeneinander saßen! -, erschien dem politischen Lehrmeister ebenfalls suspekt.
Wenn die Feuerwehr den Brand eines Schuppen löschte - MacOlive wollte es wissen. Wenn jemand einen Pkw mit Hänger brauchte - Antrag (auf englisch) an MacOlive. Ob der Ingenieur Ernst Brödner wohl als Chef des Entnazifizierungskomitees geeignet sei - MacOlive fragen. Die am 1. April 1946 erlassene Gemeindeordnung orientierte sich am Vorbild aus MacOlives englischer Heimat.
Wenn Bielefelds Chronist Reinhard Vogelsang eines als typisch britisch bezeichnen würde, dann dass die Militärregierung am liebsten alles selbst geregelt hätte. »Man neigte dazu, sich zu verzetteln«, sagt der Historiker.
Dass die gestaltende Hilfe der Bielefelder Lokalpolitik unter solchen Umständen immer wichtiger wurde, nimmt kaum wunder. Man war lernwillig, man zeigte Elan. »Meine Hauptaufgabe sah ich darin, ein demokratisches System zu schaffen, welches den Menschen erlaubte, über ihre Lebensform selbst zu entscheiden«, schrieb MacOlive, der 1951 nach England zurückkehrte. »In Bielefeld waren wir nicht ohne Erfolg.«

Artikel vom 26.01.2006