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Keine Demokratie -
nur ein verlorener Krieg

Vor 60 Jahren: Briten ernennen Bielefelds ersten Rat (1)

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Der Krieg war lange vorbei, da unterhielten sich einige Engländer mit jungen Sozialdemokraten, die in Bielefeld einen »Trainingskurs Demokratie« besuchten. Viele der neuen Polit-Regeln seien den Deutschen noch unklar, fanden die »Besatzer«, waren aber guten Mutes: Im Januar 1946 bereits hatten sie Bielefelds erstes Nachkriegsparlament installiert. In zwei Teilen wirft das WESTFALEN-BLATT einen Blick auf die Ereignisse von vor 60 Jahren.

Die Oetkerhalle war festlich geschmückt, bis auf die Straße standen die Bürger, aber beim Anblick der Politiker mochte man sich nicht festlegen, ob sie nun im Bewusstsein ihrer Würde oder aus Unsicherheit so steif aus ihren gestärkten Kragen hervorlugten. Denn die Honoratioren, die da am 21. Januar 1946 den Ausführungen des britischen Offiziers am Pult zu folgen versuchten, bildeten ja kein gewähltes Gremium, gestand SPD-Parteisekretär Emil Groß.
»Wir haben keine Demokratie. Wir haben einen verlorenen Krieg. Wir sind eine beratende Körperschaft. Da wir uns aber in einer Zwangslage befinden, müssen wir uns beugen«, sagte Groß. Oberstleutnant Douglas MacOlive beschwor zwar die gemeinsamen Anstrengungen bei der Bewältigung riesiger Probleme, folgte ansonsten aber Lenins Lehrsatz vom guten Vertrauen und der noch besseren Kontrolle. Er wünsche über jede Sitzung informiert zu werden, sagte der am 8. April 1945 zum Militärgouverneur über Bielefelds Bürger bestellte Offizier.
Die alliierten Spezialisten im Gefolge der kämpfenden Truppe waren auch schon lange bevor sie überhaupt einen Fuß ins Reich setzten, bestens informiert worden. Ihre Geheimdienste, tatkräftig unterstützt von Emigranten, hatten in »weißen Listen« zahllose als Hitlergegner bekannte Personen notiert. Als besonders regimekritisch galt die Kirche.
So mag es zu erklären sein, dass zwei US-Unterhändler, Captain Herbert Fried und Lieutenant Weiß, noch am Tag der Besetzung der Stadt (4. April) den Dechanten Johannes Schmidt fragten, ob wohl der Versicherungskaufmann Josef Niestroy einen geeigneten Oberbürgermeister abgeben werde. Schmidt sagte okay und schlug als Stellvertreter Dr. Graeven vor - den die Briten wenige Tage später als ehemals überzeugten NS-Parteigänger aus einer Sitzung heraus verhafteten.
Nazi hin oder her: Die Amerikaner waren noch keine 24 Stunden in der Stadt, da erklärten sich, noch am 5. April, zehn »Notabeln« schriftlich zur Zusammenarbeit bereit. Neben Niestroy und Graeven zählten dazu: Landgerichtspräsident Dr. Heinrich Pfeil, Chefarzt Dr. Herbert Sprengell, Erich Bulk (Geschäftsführer der Wirtschaftskammer), Reichsbahndirektor Martin ter Vehn, der Katholik Schmidt, Pastor Karl Pawlowski, Reichspostdirektor Dr. Schober und Verwaltungsrat Karl Röhrich. Als »unbelastet« galten nur Niestroy, Schmidt und Pawlowski.
Bohrender Hunger, akute Wohnungsnot, kaum Kohle gegen die beißende Kälte, nicht enden wollende Flüchtlingsströme - wer die drängenden Probleme von 22 Millionen Einwohnern der englischen Zone lösen wollte, durfte nicht pingelig aufs Parteibuch schauen. Reinhard Vogelsang, der ehemalige Leiter des Stadtarchivs, skizziert im dritten Band seiner Stadtgeschichte klar und deutlich ein Aufbaukonzept der Briten, das Pragmatismus vor Ideologie stellte.
In der von ihnen verwalteten Zone mit dem Rommel-Bezwinger Bernard Montgomery an der Spitze sollten zukunftsträchtige Strukturen dezentral, also von unten, aufgebaut werden. Das heißt, laut Vogelsang (und anderen Historikern), dass es auf kommunaler Ebene die legendäre »Stunde Null« nicht gegeben hat. Das heißt aber auch, dass erst die Arbeit getan werden musste, auch mit Hilfe »Belasteter«, bevor die »Entnazifizierung« greifen konnte.
Im Herbst 1945 konsolidierten sich wieder die alten Parteien der Weimarer Zeit, und die neue CDU (die in Bielefeld zunächst als CDP firmierte) sammelte alle Kräfte des einstmals so zersplitterten bürgerlichen Lagers. Auch wenn die Briten die formale Genehmigung in Einzelfällen »verschleppten« (die damals linksliberale FDP durfte sich erst am 8. April 1946 gründen), so standen doch schon wenige Monate nach dem Untergang der Diktatur frische politische Kräfte bereit.
Und eine Galionsfigur für Bielefeld gab es auch: Artur Ladebeck.

Artikel vom 25.01.2006