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Computersüchtige
rasten völlig aus

Abhängig von künstlichen Welten

Von Dietmar Kemper
Vlotho (WB). In Korea sind bereits die ersten Jugendlichen vor ihrem PC verdurstet und verhungert. Auch in Deutschland werde sich Computersucht zu einer großen gesellschaftlichen Herausforderung in den nächsten Jahren entwickeln, glaubt der Leiter der Abteilung für Neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen, Gerald Hüther.
Neurobiologe Gerald Hüther. Foto: Schwabe

Der Wissenschaftler geht davon aus, dass Computersucht in Zukunft häufiger auftreten wird als die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung ADHS, die mit Hyperaktivität einhergeht. Hüther berichtete bei der Tagung »Brainwash: Die Macht der äußeren Bilder« von einem Fall, der sich am Wochenende in Göttingen ereignete: Ein Jugendlicher spielte seit Freitag unentwegt am PC. Als ein Bauteil des Computers ausfiel, sei der junge Mann am Sonntag völlig ausgerastet. Er habe versucht, das passende Teil aus dem Rechner seiner Mutter auszubauen. Als sie dies ihrem Sohn untersagte, habe er sie verprügelt und das Zimmer verwüstet.
»Ausraster als Entzugserscheinung« seien typisch für Computersucht, stellte Hüther fest. Diese Form der Abhängigkeit sei kaum zu behandeln: »Diese Menschen leben in einer anderen Welt und sind dort glücklich.« Computersüchtige hätten sich Kompetenzen in einer Scheinwelt angeeignet. Alternativen in der realen Welt wie das Fußballspielen auf dem Sportplatz nebenan empfänden sie nicht als gleichwertig, nicht als interessant genug.
Jedes Erfolgserlebnis im Computerspiel nährt die Sucht. Dies hängt mit dem Belohnungssystem im Gehirn zusammen. Schafft der Spieler einen neuen Abschnitt, gewinnt er einen Kampf oder ein Autorennen, wird Dopamin ausgeschüttet. Der Botenstoff löst euphorische Stimmung aus und verstärkt das Muster im Gehirn, das durch das Computerspielen geschaffen wurde. Je öfter jemand spielt, desto stärker wird die Verdrahtung im Gehirn.
Neurobiologe Hüther berichtete über aufschlussreiche Ergebnisse der Hirn-Scans, bei denen durch bildgebende Verfahren Aktivitäten und Areale im Kopf sichtbar gemacht werden. Demnach regelt der sensorische Cortex im Gehirn die Bewegungen des für das Computerspielen unerlässlichen rechten Daumens. Untersuchungen bei Jugendlichen zeigten, dass sich dieser Gehirnbereich deutlich ausgeweitet hat. Hüther: »Jugendliche haben für die virtuelle Welt, in der kaum noch gesprochen und vieles mit dem rechten Daumen erledigt wird, das optimale Hirn.«
PC-Spieler seien wie Elvis-Imitatoren: Indem sie sich ganz auf eine Sache konzentrierten, nehme das dadurch aktivierte Areal im Gehirn an Größe zu, während der Rest ungenutzt bleibe. Spiele stellen nach Überzeugung des Wissenschaftlers (54) eine emotionale Beziehung zum Jugendlichen her und versetzen ihn in einen Erregungszustand. Das Prinzip Aufstieg oder Stillstand solle zu »maximaler Abhängigkeit« führen, indem der Spieler immer wieder neu versuche weiterzukommen.
Die Frage, warum sehr viel mehr Männer als Frauen dem Hobby mit Suchtpotenzial frönen, beantwortete Hüther biologisch. Männer seien von ihrer Konstitution her schwächer, die Spermien weniger überlebensfähig, der männliche Fötus anfälliger. Bedingt durch diese biologische Konstante brauchten Knaben mehr Halt von außen und entwickelten eine höhere Affinität zu starken Männern und aggressivem Verhalten. Vor allem Jugendliche mit labiler Persönlichkeit neigten zur Kompensation der eigenen Ohnmacht durch Machterfahrungen am PC.

Artikel vom 26.01.2006