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Bilder und Musik verändern
die Strukturen im Gehirn

Kinder können die Reizüberflutung der Medien nicht schadlos verdauen

Von Dietmar Kemper
Vlotho (WB). Elektronische Medien gehen buchstäblich auf die Nerven. Bilder, Töne, Musik und Geräusche verknüpfen Nervenbahnen im Gehirn neu. Geraten Kinder in den Sog der Dauerberieselung, nehmen sie Schaden, warnte der Kinder- und Jugendpsychiater Lutz-Ulrich Besser im Jugendhof Vlotho.
Psychiater Lutz-Ulrich Besser. Foto: Schwabe
Gehirn-Scans machen sichtbar, in welchen Arealen sich Aktivitäten niederschlagen.

»Kinder bis zu vier Jahren müssen wegen ihrer neuro-biologischen Bedingungen vom Computer ferngehalten werden«, sagte Besser bei der Tagung »Brainwash: Die Macht der äußeren Bilder«. Stress unter dem Deckmantel von Unterhaltung überfordere die Heranwachsenden körperlich und geistig. Der Leiter des Zentrums für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen (zptn) in Isernhagen erklärte: »Die pausenlosen Bilder, Filme, Töne, Geräusche und Musik sind in ihrer Abfolge meist zu schnell, zu fragmentiert, zu laut und zu gewalttätig, um von Gehirnen, besonders von jungen Menschen, ungeschadet verarbeitet werden zu können.«
Nicht nur die Zahl der verfügbaren Medien, vom DVD-Spieler über den Computer, den Gameboy bis zum Multimedia-Handy, nehme in den Haushalten zu, sondern auch das Format. Besser: »Die Bildschirme in den Wohn- und Kinderzimmern werden immer größer, die Musik immer lauter.«
Unkontrollierter Medienkonsum könne Unruhe, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Leistungsabfall, Gereiztheit, Aggressivität und den Verlust von Kreativität zur Folge haben und außerdem faul und dick machen. Um zu zeigen, dass Medien direkt im Gehirn wirken, zog Besser ein Beispiel aus der Geschichte heran: »Im Vietnam-Krieg wurden amerikanische Soldaten mit Musik und Drogen gepuscht, um die Hemmschwelle für Brutalität zu senken.«
Nach neueren Erkenntnissen von Hirnforschern ist der Denkapparat des Menschen keine statische mehr oder weniger gut funktionierende Maschine, sondern vielmehr veränderbar wie eine Wachstafel. Unsere Gehirne strukturieren und verändern sich abhängig von den Nutzungsbedingungen. Wissenschaftler nennen das Neuroplastizität. Je nachdem welche Sinneseindrücke auf sie einprasseln, verknüpfen sich die Gehirnzellen anders oder es bilden sich neue heraus.
Gerade weil das kindliche Gehirn besonders formbar ist, seien Eltern, Erzieher, Wissenschaftler, Politiker und die Verantwortlichen in den Medien verantwortlich dafür, »welche emotionale und geistige Nahrung die Gehirne unserer Kinder zu verdauen haben«, betonte Lutz-Ulrich Besser. Ansonsten könne niemand den Siegeszug der Medien zu den »neuen Erziehern des 21. Jahrhunderts« aufhalten.
Dass neue Sinneseindrücke und Erfahrungen das Gehirn verändern, zeigt sich auch in der Tierwelt. Obwohl Wild- und Hausesel genetisch identisch sind, unterscheidet sich die Struktur der Gehirne. Der Denkapparat des Wildesels ist aufgrund der Fülle von Eindrücken als Folge größerer Bewegungsfreiheit voluminöser. Medien beeinflussen inzwischen auch die Tiere. Ornithologen berichten davon, dass Singvögel Handytöne imitieren, die sie in ihrer Nähe gehört haben.
Fanden dies die Teilnehmer der Tagung in der Weiterbildungsstätte in Vlotho noch lustig, verzogen sie angesichts der Ausschnitte aus brutalen Kinofilmen das Gesicht. Lutz-Ulrich Besser wollte ihnen die Macht äußerer Bilder demonstrieren. Die minutenlange Sequenz aus der »Passion Christi« mit Mel Gibson, in der Jesus von römischen Soldaten ausgepeitscht wird, sorgte nicht nur für Stress im Gehirn, sondern zusätzlich für Muskelverspannungen, zitternde Hände und Schweißausbrüche. Hier werde filmischer Sadismus als historische Dokumentation getarnt, kritisierte Besser. Er bezeichnete es als schleierhaft, warum mit Kampfszenen vollgepackte Filme wie »Herr der Ringe« für Kinder ab 12 Jahren freigegeben wurden. Der Kinder- und Jugendpsychiater: »Produzenten und Filmemacher und die FSK sind für den Schutz der Gehirne und der Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen und deren Zukunft verantwortlich.«

Artikel vom 26.01.2006