25.01.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Aus einem Reisebericht der »FR« über Arabien

»Manche Reiseführer schwärmen von 'archaischen Traditionen', aber zivilisierter Umgang ist etwas anderes.«

Leitartikel
Die nächste Geiselnahme

Vergesst Karl May - aber doch nicht so


Von Rolf Dressler
Mancher mag fragen, weshalb das Schwinden der Urteilskraft ein typisches Zeichen unserer Zeit ist. Denn gerade wir rühmen uns doch einer Informiertheit, wie die Weltgeschichte sie noch nie zuvor gekannt hat.
Genauso rasch aber nimmt ku- rioserweise der Wille vieler Menschen ab, aus Beurteilungen Entscheidungen herzuleiten. Offenbar erscheint ihnen die Zukunft zunehmend so ungewiss, dass sie ersatzweise Zuflucht und Anlehnung jedweder Art bei Vater Staat, dem vermeintlichen Helfer in fast allen Lebenslagen, suchen.
Noch immer liegen die tatsächlichen Abläufe und die Umstände der Befreiung der Archäologin Susanne Osthoff aus der Gewalt irakischer (?) Geiselgangster in erheblichem Zwielicht. Da geraten schon wieder zwei Deutsche in die Hände von Kidnappern. Und sofort wird in der Berliner Regierungszentrale - fast schon makaber-routiniert - das gewohnte staatliche Krisenmanagement in Gang gesetzt. Osthoff, Chrobog und seit gestern nun die beiden deutschen Ingenieure einer irakischen Chemiefirma: abermals das gleiche Bild. Übung macht den Krisen-Meister - notgedrungen.
Wieder dieses ungute Gemisch aus Bangen und Hoffen natürlich auch hier in der fernen Heimat. Aber man kann schon jetzt die Uhr danach stellen: Sobald die beiden aktuellen Geiseln, was ihnen und ihren Familien inständig zu wünschen ist, wieder auf freiem Fuß sind, wird die große Mehrheit so blauäugig wie zuvor über den Islam urteilen - ungeachtet der Tatsache, dass dieser die Spirale der Gewalt in vielen Teilen der Welt ganz maßgeblich antreibt und damit sogar den Weltfrieden in Gefahr bringt.
Sichtlich getrübt sind Urteilswille und Urteilkraft bei reiselustigen Europäern. »Vergesst Karl May - der Jemen ist ein bildschönes Reiseland!« jubelte etwa die »Frankfurter Rundschau« (FR) in der Schlagzeile über dem Titelbericht ihrer Reisebeilage vom 7. Januar 2006, kaum dass der frühere Staatssekretär im Berliner Außenministerium, Jürgen Chrobog, und dessen Familie dank aufwendiger Anstrengungen kurz nach dem Jahreswechsel doch noch glücklich aus den Fängen jemenitischer Geiselnehmer hatten befreit bzw. freigekauft werden können.
Oft beinahe schon im Stundentakt bestimmen Gewalttaten von Islamisten die Welt-Nachrichten. Und nun mehren sich auch noch die Entführungen. Währenddessen aber pflegen vor allem die nun oppositionellen deutschen Grünen die Mär, dass die verflossene Regierung Schröder/Fischer sich am Irak-Krieg strikt »nicht beteiligt« habe. In Wahrheit unterstützte sie die Allianz ebenso diskret wie handfest, half mit ABC-Panzern im benachbarten Kuwait und Patriot-Raketen für die Türkei, erteilte dem US-Militär Überflugerlaubnisse, bewachte hiesige US-Stützpunkte und ermöglichte so den Einsatz zigtausender US-Soldaten im Irak.
Das ist sie: die Lücke zwischen Verschleierung und Wirklichkeit.

Artikel vom 25.01.2006