28.01.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

So selbständig wie möglich sein

Trotz Handicaps: Der contergangeschädigte Martin Ryng kennt keine Wehleidigkeit

Von Sabine Schulze
Bielefeld (WB). Leicht hat er es nie gehabt. Und das Leben wird für Martin Ryng auch niemals leicht oder unkompliziert sein. Dafür ist sein Handicap zu groß: Der 21-jährige Pole ist contergangeschädigt. Er ist ohne Beine geboren, und seine Hände sind direkt an den Schultern angewachsen. Ohne fremde Hilfe wird er also nie sein können. Trotzdem ringt er um so viel Selbständigkeit wie möglich. Und trotzdem hat er sich voll Optimismus einiges vorgenommen.

Martin Ryng kommt aus einer Kleinstadt unweit von Breslau. Dort hat er bis zum elften Lebensjahr eine Schule besucht, auf der viele Kinder mit Behinderungen waren. Danach kamen die Lehrer zwölf Stunden in der Woche nach Hause - zu wenigen, aber sehr intensiven Schulstunden, auf die er sich gut vorbereiten musste.
Seit September 2004 lebt Martin Ryng in Bielefeld, seit Sommer vergangenen Jahres studiert er am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Grafik. »Eines Tages will ich für mich selbst sorgen und meinen Lebensunterhalt verdienen können«, sagt er. Sein Computer, mit dem er virtuos umgeht, soll es ermöglichen. Und wenn seine Kommilitonen auch mal zu Stift und Tusche greifen, arbeitet er eben immer mit dem Rechner.
Dass Martin in Bielefeld studieren kann, verdankt er Menschen, die sich für ihn einsetzen: Das Bielefelder Franziskus Hospital stellt ihm und seinem Vater Marek, der den 21-Jährigen betreut, eine Wohnung zur Verfügung,. Die Caritas hat Möbel besorgt, die Bank für Kirche und Caritas ein kleines Startkapital gegeben, und Marlies Eichelmann aus Lichtenau bei Paderborn, ehemals Dekanatsvorsitzende der Katholischen Frauen, sammelte für ihn Spenden und hilft tatkräftig.
Knapp ist das Geld dennoch. Denn auf Rosen gebettet ist die Familie von Martin Ryng nicht: Seine Mutter, an Krebs erkrankt und nicht arbeitsfähig, muss sich in der Heimat um die beiden Geschwister kümmern, sein Vater kann nur stundenweise arbeiten, weil Martin Betreuung benötigt: ob er nun angezogen werden muss, etwas trinken möchte oder schlicht die Nase geputzt werden muss.
Mit seinem Schicksal hadert Martin Ryng gleichwohl nicht: Es ist eben, wie es ist. Seine schwere Behinderung ist die Folge von Medikamenten, die seiner nichtsahnenden Mutter während der Schwangerschaft wegen einer Gallenkolik von ihrem Arzt verordnet wurden - zu einem Zeitpunkt, als Contergan in Deutschland schon lange aus dem Verkehr gezogen war. »Ich bin deswegen nicht traurig«, sagt Martin. Traurig macht ihn nur, dass er niemals eine Frau wird umarmen oder dass er niemals das Kreuzzeichen wird schlagen können. Verkrochen aber hat er sich niemals, und seine Eltern haben ihn nie versteckt. »Martin ist ja auch ein besonderer Mensch«, sagt sein Vater Marek.
Wehleidigkeit kennt der 21-Jährige nicht, er geht offen und freundlich auf andere Menschen zu, ist ausgesprochen fröhlich und lacht gerne. Seine Behinderung gerät da völlig in Vergessenheit. Dass andere zunächst oft befangen sind und ihn anstarren, ist für ihn normal: »Ich bin eben anders. Und was unbekannt ist, ist interessant.« Ganz direkt fragen ihn meistens Kinder, warum er keine Beine hat. Mit ihrer Ehrlichkeit und Unbefangenheit kann er gut umgehen und erzählt lachend, dass sie ihn schon den »abgeschnittenen Mann« genannt haben. Andere haben konstatiert: »Er hat zwar keine Beine, aber einen tollen Rollstuhl.«
Auch der ist eine Spende und verschafft dem jungen Mann einiges an Bewegungsfreiheit - die er in seiner Heimat nicht hätte: »Hier ist schon vieles auf Behinderte eingestellt.« Deutschland, das ist für ihn das Land, das ihm Freiräume gibt. So kann er alleine zur Fachhochschule, um an Seminaren und Vorlesungen teilzunehmen. »Und später werde ich als Grafiker meinen Lebensunterhalt verdienen.«

Artikel vom 28.01.2006