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Chiracs atomarer Paukenschlag
droht Iran nahezu unverhüllt

Frankreichs Präsident bereitet auch innenpolitisch neue Offensive vor

Von Hans-Hermann Nikolei
Paris (dpa). Mit der spektakulären Ausweitung der französischen Atomwaffendoktrin hat Präsident Jacques Chirac eine kaum verhüllte Drohung gen Teheran gerichtet und den Großmachtanspruch Frankreichs bekräftigt. Frankreich, so kann man seine Botschaft entschlüsseln, lässt Israel gegen dessen Todfeind nicht im Stich.
Jacques Chiracs Botschaft: Frankreich lässt Israel nicht im Stich.Mahmud Ahmadinedschad stößt offene Drohungen gegen Israel aus.
Und Frankreich ist auch bereit, mit Atomwaffen gegen Mittelmächte vorzugehen, die auf Terrorismus als Machtmittel setzen oder seine Ölversorgung gefährden.
Seit 1960 gründet das im Zweiten Weltkrieg geschundene Frankreich seinen Weltmachtanspruch auf seine unabhängige »Force de Frappe«. Doch nach dem Wegbrechen des kommunistischen Ostblocks hatte die drittstärkste Atommacht der Welt kaum eine Möglichkeit, ihr atomares Gewicht in die Waagschale zu werfen. Selbst ihr großzügiges Angebot an Deutschland, den Nachbarn unter ihre Atomfittiche zu nehmen, blieb kaum beachtet. Jetzt nutzt Chirac die Machtansprüche der Mullah- Republik im ölreichen Vorderasien und die offenen Drohungen ihres Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad gegen Israel, die »Force de Frappe« wieder zu einem Mittel politischer Macht im Nahen und Mittleren Osten zu machen.
Der neogaullistische Präsident geht mit seiner Atomdoktrin nicht ganz so weit wie sein »verhasster Freund« George W. Bush. Der US- Präsident ist bereit, kleine Kernwaffen auch gegen Terrorgruppen einzusetzen. In seiner zweiten Regierungserklärung hatte Bush zudem Iran offen als den nach Atomwaffen strebenden weltgrößten Staatssponsor des Terrorismus bezeichnet.
Chirac behält sich dagegen den Kernwaffeneinsatz nur gegen Staaten vor, nicht aber gegen Terrorgruppen. Paris hat deshalb auf die Entwicklung kleiner Sprengköpfe (»Mini Nukes«) verzichtet. Atomwaffen seien ein letztes Mittel und ihr Einsatz »zu militärischen Zwecken in Konflikten« stehe außer Frage, versicherte Chirac. Zudem nannte Chirac keine »Mächte des Bösen« beim Namen und erwähnte Iran mit keinem Wort. Wer nichts Böses im Schilde führt, musste sich also nicht angesprochen fühlen. Dennoch war die Botschaft klar. Atomwaffengegner, die gestern vor dem französischen Atomwaffenstützpunkt Crozon gegen den Staatschef demonstrierten, skandierten auch prompt Parolen zur »Abrüstung in Crozon und Teheran«.
Dieser Wunsch wird wohl nicht in Erfüllung gehen. Im Gegenteil. Nach dem Wegfall der sowjetischen Bedrohung hat Frankreich seine »Force de Frappe« zwar umgebaut und die auf Deutschland und Polen gerichteten Raketen verschrottet. Doch dafür wird die Fähigkeit zu flexiblen weltweiten Atomschlägen ausgebaut. Die neuen strategischen U-Boote tragen jeweils 16 Raketen mit sechs Sprengköpfen. Schon vor Chiracs Drohung mit dem Atomknüppel wurden die Raketen modifiziert, so dass sie auch mit weniger Sprengköpfen (und Vernichtungskraft) eingesetzt werden können. Das heißt: Sie wurden auf taktische Einsätze und Konflikte mit Mittelmächten vorbereitet.
Jetzt hat Chirac den Atomkonflikt um Iran zum Anlass genommen, die Abschreckungsdoktrin an die eingeleitete Umorientierung der Strategie anzupassen. Das Muskelspiel heißt nicht, dass Frankreich seine Kernwaffen schon im Mittleren Osten in Stellung bringt. Im Gegenteil: Atombomben seien »nicht für den Einsatz« bestimmt, sondern sollten Gegner »zur Vernunft bringen«, sagte Chirac. Sein Generalstabschef Henri Bentégeat hatte jüngst erklärt, ein Gewalteinsatz gegen Iran wegen des Atomkonfliktes wäre »heute völlig verrückt« und würde ein »fürchterliches Drama im Mittleren Osten schaffen«. Für die Zukunft hatte der General den Militäreinsatz aber nicht völlig verworfen.
Bei seinem atomaren Paukenschlag wird Chirac in Paris auch innenpolitisches Kalkül unterstellt. Denn nach seinem leichten Schlaganfall kämpft Chirac 16 Monate vor der Präsidentenwahl mit aller Macht darum, politisch gehört zu werden. Der einstige »Bulldozer« gilt selbst in seiner eigenen Partei als Auslaufmodell.

Artikel vom 20.01.2006